Jens Schröter
Notizen zu einer Geschichte des LöschensWein floß über den Tisch, und sie, mit zierlichem
Finger,
Zog auf dem hölzernen Blatt Kreise der Feuchtigkeit hin. Meinen Namen verschlang sie dem ihrigen; immer begierig Schaut’ ich dem Fingerchen nach, und sie bemerkte mich wohl. Endlich zog sie behende das Zeichen der römischen Fünfe Und ein Strichlein davor. Schnell, und sobald ich’s gesehn, Schlang sie Kreise durch Kreise, die Lettern und Ziffern zu löschen. Goethe, Römische Elegien [1795]; (Goethe 1998, S. 168). D = 20 lg (U0/U1)
DIN 33858, Löschen von schutzbedürftigen Daten auf magnetischen Datenträgern, Punkt 2.3: Maß der Löschdämpfung, 1993 Bei Zerfall und Auslöschung von Bildern – so mein ursprünglicher Vortragstitel – denkt man unweigerlich an schlecht gelüftete Archive und an Bilderstürmerei. Man denkt an schludrige Archivare und an religiöse oder politische Fanatiker: Doch soll hier weder eine Geschichte des archivarischen Dilettantismus, die es wert wäre, geschrieben zu werden, noch der politisch oder religiös motivierte Ikonoklasmus (vgl. Gamboni 1998) das Thema abgeben. Beide Fälle verbindet, dass sich die Vernichtung der Bilder mit der Zerstörung ihrer materiellen Trägersubstanz deckt. Die Bildinformationen waren auf Dauer angelegt, verschwanden aber, weil ihre Träger unachtsamer- oder gewaltsamerweise zerstört wurden. Es gab aber schon lange Träger, die zum Aufzeichnen nicht nur von (einfachen) Bildern, sondern vor allem auch von Schrift keineswegs für lange, sondern für kurze Zeit gedacht waren – Medien der Notiz, der Skizze, der Gedächtnisstütze. Also genauer: Es gibt eine Differenz zwischen Speichern und dem Archiv.[1] Die gegenüber dem Archiv temporären Speicher[2] können mit exzessiver Verschwendung billigen Trägermaterials arbeiten – man denke an die allgegenwärtigen Post-its; oder sie benötigen das Löschen, um Platz zu machen für neue Notizen. Das Löschen soll hier Thema sein Es hat eine lange Geschichte: So entstand schon im Griechenland ca. in der Mitte des ersten Jahrtausends die Wachstafel. In der Vertiefung dünner Holzplatten war mit Ruß geschwärztes Bienenwachs eingelassen, in das mit einem Stilus die Schrift eingeritzt wurde. Mit dem spachtelartig verbreiterten Ende des Schreibwerkzeugs konnte die Einschreibung wieder gelöscht werden. Tafeln und Griffel wurden in den Schulen beider Deutschlands noch bis etwa in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts benutzt; Tafeln, Kreidestifte und Lappen werden noch bis heute verwendet (vgl. Müller 1997). Ein weiteres sehr bekanntes, aber deutlich jüngeres Beispiel ist natürlich der ab Ende des 19. Jahrhunderts industriell gefertigte Radiergummi, der die auf Papier verteilten Spuren von Graphit (und ähnlichen Materialien) wieder weitgehend und unter reduzierter Beschädigung des Trägers zu entfernen im Stande ist.[3] Am relativ weichen Graphit, an der noch weicheren Kreide und an der Tafel aus Wachs wird ersichtlich, dass das Löschen nur mit mehr oder minder viskosen Substanzen möglich ist – wie auch dem Wein in Goethes Elegie –, also solchen, die wieder in ihren amorphen Zustand versetzt werden können. D. h. solche Träger dürfen nicht so fluid sein, dass Formen sofort zerfließen (Goethes Wein operiert daher nur auf einer einigermaßen horizontalen Tischplatte). Sie dürfen die Formen aber auch nicht so festhalten, dass sie nicht wieder des-informiert werden könnten. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung drängt sich auf (s. u.). Offenkundig ist jedenfalls, dass seit dem Wein Goethes offenbar neuartige Substanzen aufgetreten sind, deren Formungs- wie Löschungsprozesse nicht durch physische Eingriffe (sei es durch zierliche Mädchenfinger, einen spatelförmigen Stilus, das mühselige Radieren oder den Schwamm bei der Kreide-Tafel), sondern durch die Einwirkung elektromagnetischer Felder vollbracht werden: Ein neues temporäres Speichermedium – eine neue Differenz zwischen Speicher und Archiv.[4] Denn in der Moderne sind nicht bloß technische Speicher erfunden worden, die bestimmte Aspekte des Realen in seiner kontingenten Streuung permanent aufzeichnen: wie z. B. die unlöschbaren Fotografien[5] und Filme oder die ebenso unlöschbaren Walzen, Schellack- und später Vinylplatten des Fonografen, Grammofons und Plattenspielers (vgl. Kittler 1986, S. 35-173).[6] Es hat – mit einer gewissen, zunächst oft technisch bedingten Verzögerung[7] – die massive Entwicklung von (potenziell) temporären Speichern gegeben. Jedes unlöschbare technologische Medium scheint ein löschbares Double zu besitzen: Tonband, Video etc. und später die löschbaren digitalen Aufzeichnungsmedien (wie z. B. Disketten, Streamer und neuerdings etwa CD-RWs).[8] Und auch zwischen der Schreibmaschine und jeder Version von Microsoft Word klafft die Differenz, dass wir im ersten Fall bei jedem Fehler umständlich mit TippEx herumfuchteln mussten: Vor allem deswegen ist ein Rechner unter Word – frei nach einem Wort Kittlers – die bessere Schreibmaschine. Die Unterscheidung permanent/löschbar steht offenbar quer zu der analog/digital. Jedenfalls hat es wohl noch nie so viele löschbare Medien, d. h. temporäre Speicher, wie im 20. Jahrhundert gegeben – mit Martin Warnke könnte man das viel beschworene Internet als Apotheose gerade nicht des Archivs, sondern des temporären Speichers ansehen (vgl. Warnke 2002, insb. S. 271-273). Und im 20. Jahrhundert zeigt sich dann auch die Relevanz des Löschens – z. B. in der Psychoanalyse: Noch vor der Erfindung der elektromagnetischen Speicher bezog sich Freud in seiner – bezeichnend so genannten – Notiz über den Wunderblock 1925 (vgl. Freud 1925) auf eine heute nicht mehr sehr verbreitete – aber mir aus dem Kinderzimmer noch bekannte – Aufzeichnungstechnik als Modell des psychischen Apparats. Der Wunderblock, eine von mehreren Folien bedeckte Wachstafel, ermöglicht die Speicherung von Information, er ist sofort wieder löschbar – und das ist die Pointe an Freuds Überlegungen, er lässt Spuren der Aufzeichnung trotz der Löschung zurück. Für Freud konnte dieses Phänomen der Remanenz als Metapher des Unbewussten operieren – Derrida pointiert dies in seiner Freud-Lektüre mit dem Satz: „Die Wachstafel stellt in der Tat das Unbewußte dar“ (Derrida 1992, S. 341 und auch S. 338). Zwar hatte schon Sokrates in Platons Dialog Theaitetos die Wachstafel als Metapher des Gedächtnisses bemüht (vgl. Theaitetos, 191c, d; Platon 1991, S. 307), doch könnte die Wiederaufnahme dieser Metapher im 20. Jahrhundert mit der gleichzeitigen Akzentverlagerung auf die Dialektik von Löschen (im Theaitetos ist eher vom Verblassen der Spuren die Rede) und Bewahren symptomatisch sein.[9] Denn die von Freud als Charakteristik des Unbewussten angegebene Remanenz von eigentlich gelöschten Spuren ist das zentrale Problem jeder Löschung, welches heute ganz neuartige Behörden und Industrien der Datenrettung (data retrieval oder data recovery) bzw. Techniken wirklich vollständiger Löschung hervorbringt.[10] Daher spezifiziert die als Motto zitierte DIN-Norm so peinlich genau die Löschdämpfung[11] zu löschender schutzbedürftiger Daten: Wird wirklich gelöscht, was gelöscht werden soll? Gerade darauf wird zurückzukommen sein. Aber auch in Turings Gedankenexperiment einer universellen Rechenmaschine von 1936/37 als logischem Urmuster aller digitalen Computer zeigt sich die Bedeutung des Löschens. Der Schreib/Lesekopf der Maschine schreibt nicht nur Zeichen: „In anderen Zuständen tilgt sie das Symbol“ (Turing 1987, S. 21)[12] – freilich ohne gleich das ihr als Medium zu Grunde liegende Papierband zu vernichten. Diese logische Struktur gilt auch für heutige Computer: Register und Speicherplätze müssen auch wieder freigeräumt werden können – andernfalls sind algorithmische Operationen nicht ausführbar. Ein weiterer namhafter Diskurs, dem man die implizite Verbindung mit löschbaren Speichern nachrechnen könnte, ist, wie schon angedeutet, die Systemtheorie: Luhmann, der die Medium/Form-Unterscheidung 1986 in sein Modell einführt (vgl. Luhmann 1986) beschreibt das ‚Medium‘, welches „eine gewisse Viskosität“ (Luhmann 1998a, S. 53). aufweist und so temporär Formen aufnimmt, explizit mit der „Metapher der Wachsmasse [...], auf der Einzeichnungen möglich sind und gelöscht werden können“ (Luhmann 1995, S. 166).[13] So scheint es ohne Löschen nicht nur bestimmte Aspekte der Psychoanalyse nicht zu geben, sondern auch keine Computer und (einige Facetten der) systemtheoretischen Medientheorie. Vielleicht ist das Löschen eine zentrale epistemische Figur des 20. Jahrhunderts, was man nicht nur in den allzu vielen ausgelöschten Völkern und ausradierten Städten bestätigt finden mag: In Foucaults ebenso viel zitierter wie ominöser Ankündigung am berühmten Schluss der Ordnung der Dinge von 1966, wird ‚der Mensch‘ mit einem vielleicht bald ausgelöschten Bild eines Gesichts im Sand am Meeresufer verglichen (vgl. Foucault 1993, S. 462).[14] Wie dem auch sei: Ausgehend von diesen Beobachtungen müsste eine Geschichte des Löschens eine Reihe komplexer Fragen adressieren: Was kann zu einem gegebenen Zeitpunkt temporär gespeichert werden und was nicht? Welche Regeln bestimmen die Notiz, das Löschen und die Remanenz – was also gilt als notizwürdig, wer hat Zugang zu temporären Speichern, wer darf was wann löschen, was bleibt zurück, was darf nicht zurückbleiben?[15] Was wird wie vorsätzlich unlöschbar gemacht?[16] Wie wirkt das historisch auszuarbeitende Verhältnis zwischen Speicher und Archiv genau auf die Ökonomien des Diskurses und des Gedächtnisses? Wie hängt dieses Gefüge wiederum mit den herrschenden sozio-ökonomischen Formationen zusammen? Was passiert, wenn sich die Formen temporärer Speicher vervielfachen und überdies immer mehr Menschen zugängig sind, wie das im 20. Jahrhundert geschah? Ich muss Antworten auf alle diese schwierigen Fragen hier natürlich schuldig bleiben, selbst wenn ich sie geben könnte. Hier kann nur eine Annäherung einer Antwort – oder vielleicht besser: die Präzisierung einiger Fragen – gegeben werden. Es wird um ein Medium gehen, dessen Bilder von vornherein auf Löschbarkeit angelegt waren: Video. Und es wird um ein Kunstwerk gehen, das manche Fragen schon thematisiert hat. Eine gewisse Heterogenität scheint angesichts der weiten Frage nach dem Löschen unvermeidbar. ***
Die ersten elektromagnetischen Speichermedien dienten der Aufzeichnung von in elektrische Ströme umgewandelten Luftschwingungen, also Tönen. Ein auf einem magnetisierten Draht basierendes Verfahren dafür wurde 1898 von Valdemar Poulsen patentiert und immerhin 1900 auf der Pariser Weltausstellung prämiert. Doch das Verfahren war von geringer Klangqualität. Nach der Entwicklung des mit magnetisierbaren Emulsionen beschichteten Bandes und eines neuen Aufzeichnungskopfes konnte 1935 AEG auf der Funkausstellung in Berlin sein Magnetophon K-1 vorstellen. 1940 wurde die Hochfrequenz-Vormagnetisierung erfunden, die erst die Aufzeichnung in heute üblicher Klangqualität ermöglichte. Nach 1945 und dem Erlöschen aller deutschen Patente erfuhr die zuvor in den USA eher stiefmütterlich behandelte Entwicklung der Tonbandtechnik einen Aufschwung. Major Jack Mullin ließ bei Kriegsende im geschlagenen – ‚(aus)gelöschten‘ – Tausendjährigen Reich vier Tonbandgeräte K-4 beschlagnahmen. So verfügte bald die damals noch kleine Firma Ampex über das notwendige Wissen, um praktikable Tonbandgeräte zu entwickeln. Die Aufzeichnung elektronischer Bildinformation ist auf Grund des hohen Frequenzumfangs (der Bandbreite) von Videosignalen schwieriger als die von Tönen. Aber mit der Expansion der Fernsehindustrie – zwischen 1948 und 1955 sprang der Anteil der amerikanischen Haushalte, die einen Fernseher besaßen, auf über fünfzig Prozent – wurde die elektromagnetische Aufzeichnung von Bildern immer dringlicher: Die Fernsehproduzenten benötigten ein Medium, mit dem man Sendungen aufzeichnen konnte, um sie zeitverzögert zu senden; mit dem es möglich war, Berichte vom Tage einzuspielen etc. Zunächst wurde dafür Film (‚Kinescope recording‘[17]) genutzt. Abbildung 1
Kinescope vs. Elektromagnetische Aufzeichnung, aus: Zielinski 1986, S. 67 Das oben stehende Bild zeigt den auf Film basierenden Prozess. Ohne technische Details erläutern zu müssen, ist offenkundig, dass der unten dargestellte videografische Prozess erheblich einfacher ist. Doch die Entwicklungszeit der Filme kollidierte mit den Aktualitätsforderungen des Fernsehens. Und die Tatsache, dass man Filme, die etwa für ein aktuelles Ereignis genutzt worden waren, nicht mehr wiederverwenden konnte, trieb die Kosten in die Höhe. Um 1954 verbrauchten die Fernsehanstalten mehr Film als Zwischenspeicher als alle Hollywood-Studios für ihre Spielfilme. Unlöschbarkeit ist teuer. Nicht verwunderlich ist daher, dass die Bing Crosby Enterprises, die BBC, RCA und andere seit etwa 1948 forciert versuchten, ein magnetisches Bildaufzeichnungsverfahren zu entwickeln. Es gelang schließlich Ampex: Am 14. April 1956 enthüllten sie den Ampex Mark IV, der dank zweier neuer Verfahren[18] der erste brauchbare Videorecorder der Welt war. Abbildung 2
Das Entwicklerteam von Ampex mit dem Mark III, 1957, aus: Zielinski 1986, S. 265. Der Markterfolg war durchschlagend. ***
Benjamin sah in den technischen Reproduktionsmedien bekanntlich revolutionäre und demokratisierende Potenziale angelegt, die die Zwangsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft aufzulösen im Stande seien. Doch schon Adorno argumentierte in einem Briefwechsel mit Benjamin, dass die Reproduktionstechniken selbst im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsform entstanden waren – die von den Fernsehanstalten aus ökonomischen Gründen nachgerade erzwungene Entwicklung von Video scheint das schlagend zu bestätigen (vgl. Adorno 1974). So kann man die Geschichte der technologischen Bildmedien auch als zunehmende Industrialisierung des visuellen Feldes beschreiben,[19] die zunächst in der Emanzipation der visuellen Information von ihren materiellen Referenten besteht: Sir Oliver Wendell Holmes schrieb schon 1859 über seine Erfahrungen mit der stereoskopischen Wiedergabe fotografischer Bilder: Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt. [...] Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will. [...] Materie in großen Mengen ist immer immobil und kostspielig; Form ist billig und transportabel. Das heißt auch: die Ansicht ist nun abgelöst von ihrer trägen Materialität und kann auf dem Markt zirkulieren: „Schon reist ein Arbeiter mit Stereo-Bildern von Möbeln durch die Lande, die die Kollektion seiner Firma zeigen und holt auf diese Weise Aufträge ein“ (Holmes 1983, S. 119).[20] Doch die Fotografie liefert selbst noch materielle Bildobjekte, die – wie Holmes’ Verweis auf den reisenden Vertreter zeigt – von Reisenden an Zielorte transportiert werden müssen. Durch Abtastung in elektrische Signale transformierte Bilder umgehen dieses Problem: sie sind (im Prinzip) überallhin übertragbar. So ist es wohl kein Zufall, dass die verschiedenen Entwicklungen im Bereich der Telefonie, Telegrafie und Bildtelegrafie in der Zeit des europäischen Imperialismus – den sie einerseits ermöglichten, von dem sie andererseits aber auch begünstigt wurden – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden (vgl. Neuburger 1920 und Innis 1950). Abbildung 3 Bakewells Bildtelegraph, 1851. Das erste praktikable Verfahren zur telegraphischen Übertragung von Bildinformation, d.h. ihrer Umwandlung in elektrische Signale, aus: Korn 1923, S. 9.[21] D. h. die Industrialisierung des Sehens trennt nicht nur die visuelle Information vom Referenten, sondern zunehmend auch vom Träger. Sie wird, um ihrer letztlich totalen Mobilmachung willen, dematerialisiert. Mit Video werden die Bilder überdies direkt in einer übertragbaren, elektromagnetischen Form erzeugt und gespeichert. Und sie sind seitdem auch löschbar: Man spart Bildträgermaterial und kann es vermeiden, ‚nutzlose‘ Archive anzuhäufen (obwohl es natürlich allen freisteht, auch löschbare Speichermedien zu gigantischen Archiven aufzutürmen – nur dafür ist Video auf Dauer nicht wirklich geeignet, s. u.). Die Bilder sollen rasch verwertbar sein, ohne Altlasten zu hinterlassen; an sich scheinen sie keinen Wert mehr zu haben, sie sind so austauschbar wie das Geld, mit dem Sir Oliver Wendell Holmes explizit bereits die Fotografie verglich (vgl. Holmes 1983, S. 120). Eine Funktion des Löschens von Bildern kann also sein, neuem Bilderkonsum Platz einzuräumen. Entgegen Benjamins Medienoptimismus drängt sich der Verdacht auf, als kämen die von ihm so genau beobachtete Reproduzierbarkeit und „Flüchtigkeit“ (Benjamin 1974, S. 479) der technologischen Bilder einer zunehmenden Anpassung der ehemals so auratischen und materiell trägen Bilder an den von Marx und Engels präzise beschriebenen Zwang des Kapitalismus, „alle festen“ Zustände „aufzulösen“ und zu „verdampfen“ (Marx/Engels 1970, S. 36/37), gleich. Schon deswegen dürfte der Markterfolg der Videotechnik nicht überraschen. Und diese Verdampfung bedeutet zugleich die Löschung von Arbeit: Mit Video (und auch in einigen Formen der späteren digital-elektromagnetischen Speichermedien) wird die Arbeit der Löschung auf ein Minimum reduziert. Keine quälende Radiererei. Es bedarf bei Video im Prinzip nur eines einzigen Löschkopfes, die magnetisierbaren Teilchen in der Emulsion wieder in ihren ungeordneten Zustand zurückzuversetzen, während das Schreiben des Bildes mehrere Köpfe auf der Kopftrommel braucht.[22] Man könnte formulieren, dass das Videobild der Vernichtung von Arbeit zumindest dienen kann – denn wie mühe- und liebevoll der Dreh auch war, eine neue Aufnahme genügt und alles ist gelöscht. So gesehen ist die Löschung der Arbeit (zu Gunsten der Wiederverwendbarkeit des Trägers) eine Arbeit aller löschbaren Medien.[23] ***
Abbildung 4
William Eggleston, ein Foto aus The Louisiana Project (1980), aus: Eggleston 1992, S. 69.[24] William Burroughs schildert in seiner wunderbaren Erzählung Die letzte Vorstellung von 1976 eine Stadt, die aus abgenutzten Fotos errichtet ist: Bei näherem Zusehen erweist sich, daß auch die Häuser aus alten Fotos bestehen, die zu Blöcken gepreßt sind und einen violetten Dunst verströmen, der die Räume und Straßen und Terrassen dieser toten Müllkippe der Vergangenheit erfüllt – eine statische Welt, schal und abgestanden wie das Gras und der Himmel auf einer alten abgegriffenen Ansichtskarte. (Burroughs 1983, S. 106). Die so beschworene Anhäufung von industriell produzierten Bildern hat Kracauer schon 1927 als Bedrohung für das kollektive Gedächtnis beschrieben. In Bezug auf den Anspruch von Fotografien in illustrierten Zeitschriften, an die abgebildeten Gegenstände, Personen und Ereignisse, ihre „Urbilder“ also, zu erinnern, schrieb er: In Wirklichkeit aber wird der Hinweis auf die Urbilder von der photographischen Wochenration gar nicht bezweckt. Böte sie sich dem Gedächtnis als Stütze an, so müßte das Gedächtnis ihre Auswahl bestimmen. Doch die Flut der Photos fegt seine Dämme hinweg. (Kracauer 1963, S. 34). Möglich wäre, dass das analog-elektromagnetische, löschbare Bild nicht nur eine weitere Stufe der Industrialisierung des Sehens, sondern auch schon eine Antwort auf die mit den fotografischen Massenmedien verbundene Anhäufung von Bildern und Bildermüll – der ‚toten Müllkippe der Vergangenheit‘ – darstellt. Man muss die Zeichen auch wieder loswerden können. Videobilder kann man nicht nur löschen, ihr Träger ist auch weniger haltbar als der fotografischer Bilder, weswegen Videos sich für die Errichtung permanenter Archive nicht wirklich eignen.[25] Generell ist zu beobachten, dass die Lebensdauer der Träger in vielen Fällen abnimmt, während die Datendichte der Speicher und damit das Risiko von Datenverlust zunimmt (vgl. Zimmer 1999).[26] Die Flüchtigkeit der Aufzeichnungen und d. h. auch der aufgezeichneten Bilder scheint parallel zu ihrer schieren Menge, Wiederholbarkeit, Erreichbarkeit, Verfügbarkeit zu steigen – vielleicht einfach deshalb, weil sonst ein Kollaps der Gedächtnis-Ökonomie droht. Schon Nietzsche warnte in diesem Sinne schon 1874 vor einer alles erstickenden ‚antiquarischen Geschichtsschreibung‘ (vgl. Nietzsche 1964, S. 123) Mindestens in diesem Sinne könnte man sagen, dass „Entropie [...] die andere Seite des Archivs“ (Ernst 2002, S. 126) ist. Das Hauptproblem ist gerade im Zeitalter digitaler Netze, dass unter der Flut verfügbarer Daten relevante Information kaum noch zu finden ist (vgl. Schröter 2004). Das (ob nun beabsichtigte oder versehentliche) Löschen und/oder der Zerfall von Information hätten sozusagen eine gedächtnis-ökologische Funktion – Winkler hat folglich ein Äquivalent zum Vergessen, also: Verdichtung und Verschiebung, für die Datennetze gefordert (vgl. Winkler 1997, S. 172-184). Angesichts der Inflation verschiedenartigster Bilder und ihrer immer geringeren Haltbarkeit wird die Arbeit der Historiker und Archivare immer schwieriger und immer teurer. Aber was bleibt, was wird gelöscht und was zerfällt? So mag die Flüchtigkeit direkt in eine Art marktgesteuerten Darwinismus der Bilder münden. Ich verweise nur auf eine Untersuchung Geoffrey Batchens, der – auch unter Bezug auf Benjamin – vor einer Monopolisierung des visuellen Teils der politischen Geschichte und der Kunstgeschichte in ihrer elektronischen Web-Form durch Konzerne wie Corbis warnt (vgl. www.corbis.com und dazu Batchen 1998). Folglich taucht unvermeidlich die Frage wieder auf, wer über das Archiv gebietet, wer Löschung verhindern, gestatten oder gar befehlen kann (die nationalsozialistische Bücherverbrennung ist ein ebenso barbarisches, wie gegenüber dem Stand der Medientechniken schon damals fast atavistisches Beispiel). Und genauer noch: Wer entscheidet, welche löschbaren und/oder zerfallenden Bilder in unlöschbare überführt werden sollen und welche nicht? Diese Frage würde detaillierte Analysen entsprechender Diskurse und Institutionen voraussetzen. Das kann hier nicht geleistet werden. Man sollte sich aber keinesfalls mit dem stillen Verlöschen, einem marktgesteuerten Darwinismus der ‚schwachen‘ Bilder begnügen. Man könnte dem die (dann doch Benjamin’sche) Utopie einer anders organisierten Löschung, Bewahrung und Umordnung des visuellen Archivs entgegenstellen, die eine andere Gedächtnis-Arbeit mit den Bildern betriebe. Diese Alternative könnte sich in der Kunst zeigen.[27] Doch hier ist das Thema nicht das (wenn möglich) auf unlöschbaren Medien[28] beruhende Archiv als solches. Thema ist das Löschen, welches die Frage, was zum Archiv gehören kann und soll, mit neuer Dringlichkeit stellt. Aber wie sollte sich die Kunst mit dem Löschen beschäftigen? Als erstes Problem drängt sich auf, dass etwas Gelöschtes ja verschwunden ist und als aisthetisches Phänomen gerade nicht mehr thematisiert werden kann. Und so erscheint es sofort als schwierig, ein Beispiel aus der Videokunst zu finden, was nach dem bisher Gesagten nahe liegend wäre. Denn die Remanenzen elektronischer Löschung bei Video sind – außer für data retrieval-Experten – schlechthin unwahrnehmbar. Vielleicht muss man erstens gerade da nach einer Reflexion des Löschens suchen, wo die Remanenzen noch nicht die Wahrnehmung der Leute unterlaufen; oder dort, wo das Gelöschte als Loch in einem Gefüge ex negativo anschaulich wird. Aber es könnte noch einen anderen Grund geben, warum sich aus der Videokunst kein gutes Beispiel empfiehlt – jedenfalls ist mir keines eingefallen: Das zwingende Bemühen jener KünstlerInnen, die mit dem flüchtigen Videobild arbeiten, muss es sein, ihre Aufzeichnungen in die Permanenz des musealen Archivs zu überführen.[29] Gerade der Druck des Kunstsystems führt bei Video zur Verdrängung der medienspezifischen Löschbarkeit. Eine künstlerische Selbstreflexion dieses Aufzeichnungsmodus scheint es kaum geben zu können (obwohl Video von manchen frühen Videokünstlern wegen seiner Flüchtigkeit gerade als Affront gegen die ‚auratisierte‘ Kunst begrüßt wurde – aber in dem Moment, zu welchem sie vom musealen Diskurs heimgeholt werden, kann es zu einem Imperativ werden, den Videotapes Haltbarkeit zu verleihen). Vielleicht muss man zweitens da nach einer Reflexion des Löschens suchen, wo sie sich nicht als Medienspezifik, und damit als Problem des musealen Archivs, aufdrängt. Es gibt ein schönes Beispiel, welches beide Bedingungen erfüllt. ***
Einem Fanal gleich radierte Robert Rauschenberg 1953, also am Vorabend des Auftauchens der elektromagnetisch-löschbaren Bilder, eine Zeichnung von Willem de Kooning aus – und nimmt dadurch manche Fragen, die erst mit den löschbaren Bildern entstehen werden, vorweg. Abbildung 5
Robert Rauschenberg, Erased de Kooning Drawing, 1953, aus: Rauschenberg 1998, S. 92 (Tafel 63). Zunächst scheint es sich schlicht um einen archiv-kritischen Akt zu handeln, war de Kooning doch einer der führenden Vertreter des so genannten ‚abstrakten Expressionismus‘, den junge Künstler wie Rauschenberg respektvoll zu überschreiten – oder überschreiben – suchten. Doch Rauschenberg bemerkte in einem Interview von 1976: „It wasn’t a gesture, it had nothing to do with destruction“ (zitiert unter: http://www.art.a.se/artvandals/08.html; letzter Zugriff 25.12.2003). Zumal die Zerstörung des Bildes viel einfacher (etwa durch Verbrennen des Papiers) hätte durchgeführt werden können. Doch vier Wochen Arbeit investierte Rauschenberg, um die Bildinformation ohne Zerstörung des Trägers bis auf wenige Spuren zu löschen (vgl. Gamboni 1998, S. 278/279). Das unterscheidet Rauschenbergs – bezeichnend so genannte – Arbeit nicht nur von jeder Übermalung (im Stile etwa Ad Reinhardts), sondern erst recht von der Negation der Arbeit im Videobild, obwohl seine Betonung der Differenz von Bildinformation und Träger wiederum auf die löschbaren Bilder vorauszuweisen scheint. So unterstreicht er zunächst, dass es an materiellen Eingriffen und nicht bloß an einem ‚natürlichen‘ (lies heute: marktförmigen) Prozess der Durchsetzung liegt, was gelöscht wird und woran wir uns in Zukunft überhaupt werden erinnern können. Doch das Erased de Kooning Drawing zeigt noch mehr: Durch eine sehr aufwändige Arbeit des Löschens erzeugt Rauschenberg Wert – eben ein ‚Werk‘ – auf der Basis der Transformation von Arbeit, eines Werkes (der de Kooning-Zeichnung). Unterstrichen wird dies durch den auffälligen, da mit Blattgold beschichteten und so Wert konnotierenden Rahmen, der laut einer Inschrift auf der Rückseite der Arbeit zum Werk dazugehört und nicht entfernt werden darf.[30] So wird gerade der Wert der Arbeit bei der Transformation vergangener Arbeit thematisiert – etwas, das bei Wegwerfbildern zu leicht aus dem Blick gerät. Damit diese These stimmt, müsste allerdings sichergestellt sein, dass Rauschenberg wirklich eine de Kooning-Zeichnung ausradiert hat. Das kann einem fast leeren Blatt jedoch kaum angesehen werden; es könnte – allen Interviews zum Trotz – auch irgendetwas anderes gewesen sein. Doch: Auf der Rückseite des Blattes befindet sich noch eine andere de Kooning-Zeichnung, die laut der Website des MoMA eben diese Herkunft verbürgen soll. Abbildung 6
Robert Rauschenberg, Erased de Kooning Drawing, 1953, Rückseite der Zeichnung, unter: http://www.sfmoma.org/MSoMA/artworks/93.html (Letzter Zugriff Januar 2004). Gerade das Nichtgelöschte gehört nicht zum Archiv, verbürgt aber, dass das Gelöschte und Abwesende Teil desselben ist. Doch zugleich läuft ein Verdacht mit: Könnte nicht gerade das ausradierte Blatt ursprünglich die Rückseite des ‚eigentlichen‘ Werks gewesen sein, welches sich nun auf der anderen Seite befindet? Rauschenberg verwirrt die standardisierte Logik des Archivs, in das normalerweise gerade das Nichtgelöschte und/oder die ‚Vorderseite‘ eingehen. Bei der näheren Betrachtung des Erased de Kooning Drawing (Abb. 5) zeigt sich überdies, dass das Blatt eben nur fast leer ist. Bei Rauschenbergs Anwendung der Logik der flüchtigen Vorzeichnung oder der Notiz auf ein ‚Werk‘[31], das übrigens selbst eine Zeichnung war, bleiben immer noch remanente Spuren zurück. Blassgraue, schemenhafte, verschlungene Linien suggerieren Überreste der verschwundenen Zeichnung zu sein. Der Betrachter wird angehalten, nach Spuren de Koonings zu suchen, mithin wie die späteren data retrieval-Spezialisten Gelöschtes zu rekonstruieren. Und das wirft eine Frage auf: Was sind die minimalsten Spuren, die notwendig sind, um einen ‚de Kooning‘ zu bezeichnen? Das (künstlerische) Bild wird hier an den Rand seiner Existenzbedingungen geführt. Doch die Remanenzen zeigen noch mehr: Die weißliche ‚Wolke‘ auf dem Papier, eine kaum anwesende Spur, die das Abwesende bezeichnet, zeugt einerseits davon, welchen Strapazen das Trägermaterial ausgesetzt war: Auch bildlich wird so die Arbeit des Löschens dokumentiert. Andererseits zeigt sie, dass mindestens eine minimale Remanenz vorliegen muss, das Gelöschte als Loch auffallen muss, damit der Akt des Löschens und somit das Gelöschte als Gelöschtes überhaupt wahrgenommen werden kann. D. h. nur indem sie misslingt, kann die Löschung erscheinen. Dies demonstrieren auch die schwärzlichen und bräunlichen Flecken insbesondere am rechten Bildrand: Es ist schwer, alles Aufgezeichnete gründlich und vollständig zu löschen – es gibt also immer auch Spuren, die gewissermaßen ungewollt in das Archiv übergehen. Auf diese Weise thematisiert Rauschenberg einerseits in Minimalform die Ökonomie des Gedächtnisses. Denn dieses operiert, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, gerade durch die Verschränkung der Verfahren der Notiz/Skizze, des Temporären, des Speichers, des Kurzzeitgedächtnisses und des Werkes, des Permanenten, des Archivs, des Langzeitgedächtnisses. Rauschenberg evoziert jene Verknüpfung des Löschens, der Remanenz und des Archivs, und die damit gegebene Torsion von Vorder- und Rückseite, die – wenn man so will – schon Freud in seiner Diskussion des Unbewussten und in den Metaphern des Wunderblocks unterstrichen hat (vgl. Hombach 1990). Andererseits deutet Rauschenberg – sicher in dieser Weise unintendiert – kaum 20 Jahre nach der Erfindung des Tonbands und am Vorabend des Auftauchens elektromagnetischer Bildspeicher auf jene Probleme der Datensicherheit voraus, die gerade dadurch auftreten, dass kaum eine Löschung wirklich alles löscht, mithin das Löschen ein Denunziatorisch-Unbewusstes hat... ***
Im Banne der Ungewissheit stehen wir in der Tat, wenn es um das Löschen geht. Es konnte nur skizziert werden, welche zentrale Rolle das Löschen in ebenso verschiedenen wie wesentlichen Phänomenen des 20. Jahrhunderts einnimmt: In der Psychoanalyse, der Fernsehindustrie, dem Computer, dem Video, (mit Einschränkungen) der systemtheoretischen Medientheorie. Ja, wie das Löschen generell die gesamte Ökonomie des Archivs und des Gedächtnisses umformatiert. Es wird gerade erst denkbar, welche Forschung noch zu leisten wäre, um seiner Rolle präzise nachzuspüren. Man müsste zum Beispiel archäologisch rekonstruieren, wie sich die epistemische Figur des Löschens mit der Entwicklung je spezifischer löschbarer Speichermedien verändert hat.[32] So bezog sich Freud mangels Alternativen selbstverständlich noch auf die Wachstafel bzw. ihre zeitgenössische und signifikant modifizierte Neuauflage als Wunderblock. Turing hätte das Tonband vielleicht schon kennen können, bleibt aber in der wohl wichtigsten Dissertation aller Zeiten und Völker noch am Radiergummi orientiert – was allerdings für das logische Design keinen Unterschied macht.[33] Dann drängt sich aber die Frage auf, warum das Paradigma der Wachstafel in Theorien, die lange nach dem Tonband und Video, ja den digitalen Speichern folgen, immer noch so zentral ist, wie das Beispiel Luhmann nahe legt. Denn in der systemtheoretischen Medientheorie (zumindest ab der 1986 erfolgten Einführung der Differenz von Medium/Form) tauchen erst sehr spät neben der Wachsmasse digitale Medien – nicht als Gegenstand, sondern als theoriereflexive Metapher – prominent auf...[34] Wie dem auch sei – es sollte deutlich geworden sein, dass die Frage nach dem Löschen uns alle ganz konkret angeht: Wir wissen nicht genau, wie lange unsere Speicher physisch halten oder ob irgendwann irgendjemand unsere Speicher löscht. Wer bestimmt, was von den temporären Speichern zum Archiv gehen darf? Was bleibt bestehen und was zerfällt? Hätten wir die flüchtigen Notizen wie Klänge, Schriften oder Bilder nicht sorgfältiger aufbewahren müssen? Uns selbst, wenn wir sie hätten löschen wollen, bleibt noch Ungewissheit: Ist die Löschung denn tief genug? Bleiben nicht noch remanente Spuren, wenn wir sensible Daten – z. B. Liebesbriefe, illegale Pornografie, Geschäftsgeheimnisse oder andere Pikanterien – löschen? Spuren, die uns vielleicht verraten ... wie ein am Meeresufer achtlos hingezeichnetes Gesicht im Sand? LITERATUR: Adorno, Theodor W. (1974): [Brief an Walter Benjamin]. In:
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1000-1006.
Ahrendt, Jens (1997): Ausgedreht. Hardwarenahe Datenrettung
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[∗] Ich danke Bernhard
Ebersohl für Recherchen und Korrekturen. Gedankt sei Christian Spies
für wichtige Hinweise. Und ebenso Nicola Glaubitz für kritische
Lektüren – ihr sei der Text
gewidmet.
[1] Diese simple Unterscheidung entgeht gerade elaborierten philosophischen Rekonstruktionen etwa des Archiv-Begriffs bei Foucault, die trotz angeblichen Bezugs auf ‚die Medien‘ in ihrem fundamentalistischen Anspruch nicht einmal die basalsten Fakten der tatsächlichen Mediengeschichte wahrzunehmen fähig oder gewillt sind, so etwa Skrandies 2003, S. 177-206. Es geht mitnichten immer um die „Möglichkeit dauerhafter Archivierung“ (S. 191). [2] Natürlich können einstmals temporäre Speicher, etwa die Skizzen eines Künstlers oder die Notizen eines Schriftstellers, im Laufe der Zeit selbst zu permanenten Archiven umgewidmet werden. [3] Vgl. die schönen Anmerkungen zum Radiergummi bei Holbein (1990, S. 54-58). Er erwähnt im Folgenden auch den – wunderbar so bezeichneten – ‚Tintenkiller‘, an den ich mich aus meiner Schulzeit noch gut erinnern kann, vor allem daran, dass Lehrer ihn verteufelten. [4] Deren Ursprung man letztlich bei Hans Christian Oersted ansetzen kann, der 1820 – also 25 Jahre nach Goethes Elegie – mithilfe eines Kompasses den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus entdeckte. Diese Entdeckung liegt bei allen Wandlungen letztlich Tonbändern, Videotapes und – über den Bruch analog/digital hinweg – Disketten und Festplatten zu Grunde. Vgl. auch Derrida 1997, S. 35: „[D]ie technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.“ [5] Vgl. Hagen 2002, hier S. 233: „Unmöglich, einen bereits belichteten Film wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Nicht also am ‚Referenten‘ des Bildes, sondern an der Irreversibilität belichteten Materials haftet das ‚Es-ist-so-gewesen‘ der Fotografie, ein Strukturverlust, fixiert durch die ‚Entwicklung‘ des Bildes“. Am Rande ist bemerkenswert, dass das größte Problem der Fotografie ich ihrer Frühzeit gerade war, fixiert werden zu können – und so dem Verblassen zu entgehen (nur wäre dies kein Löschen im eigentlichen Sinne gewesen, da das verblasste Fotomaterial nicht hätte wieder beschrieben werden können). [6] Auf S. 162-171 thematisiert Kittler zwar das Tonband, ohne jedoch seine gegenüber Fonograf, Grammofon und Plattenspieler fundamentale Eigenschaft der Löschbarkeit zu erwähnen. [7] Z. B. mussten erst so verschiedene Entwicklungen wie neuartige Trägermaterialien (Acetylzellulose, 1928), der ringförmige Magnetkopf (1933) und die Hochfrequenz-Vormagnetisierung (1940) zusammenkommen, um funktionsfähige Tonbandgeräte zu entwickeln. [8] Das gilt nicht für Laserdiscs, CD-Roms und anderen ‚gebrannten‘ Medien, die wieder mit einer irreversiblen physischen Veränderung des Trägermaterials arbeiten. [9] So bemerkt Assmann 1999, S. 158: „Noch nachhaltiger gibt die exakte Korrespondenz von Technikgeschichte und Gedächtnistheorie zu denken. Solange die Analogmedien Photographie und Film ihre Bilder über Spuren in materielle Träger eingravierten, dominierte in der Gedächtnistheorie von Proust bis Warburg bis Freud die Auffassung von der Festigkeit und Unauslöschbarkeit der Gedächtnisspuren. Im Zeitalter der digitalen Medien, die in nichts mehr gravieren, sondern Schaltungen koordinieren und Impulse fließen lassen, erleben wir bezeichnenderweise ein Abrücken von solchen Gedächtnistheorien. Gedächtnis wird nun nicht mehr als Spur und Speicher, sondern als eine plastische Masse betrachtet, die unter wechselnden Perspektiven der Gegenwart immer neu geformt wird.“ Zu diesen wichtigen und richtigen Anmerkungen seien vier Ergänzungen erlaubt: Erstens ‚gravieren‘ digitale Medien sehr wohl noch – etwa in CD-Roms. Zweitens unterschlägt Assmann die Tonspeicher – dem französischen Philosoph Jean-Marie Guyau schien es 1880 völlig selbstverständlich, das menschliche Gedächtnis in Bezug auf den Fonografen zu bestimmen, vgl. Guyau 1880. Drittens und wichtiger noch endet die ‚Unauslöschbarkeit‘ eben lange vor den Computern in Tonbändern und Videotapes. Und viertens sei die theoretische Anmerkung gemacht, dass von ‚Unauslöschbarkeit‘ bei Freud, der das Gedächtnis ja in gewisser Weise durchaus als ‚plastische Masse‘ sah, allein nicht die Rede sein kann – die Metapher des Wunderblocks dient ja genau dazu, Bewahrung und Löschung gleichzeitig zu denken. [10] Vgl. Schmundt 2003, S.
145: „‚Um einen Datenträger richtig zu löschen [...],
müsste man die Festplatte tiefenlöschen.‘ Tiefenlöschen
bedeutet, dass Festplatten mit eigens errechneten Zufallszahlen
überschrieben werden – ‚über 30-mal‘, so Pfitzner.
Andere Experten meinen, dass auch zehn Löschvorgänge reichen
würden. Unstrittig ist: Eine solche Prozedur kann bei großen
Festplatten mehrere Tage dauern. Wenn es um wirklich wichtige und sensible Daten
geht, raten Experten daher zu anachronistisch anmutenden Brachialmethoden:
Physische Vernichtung durch Zerschneiden, Verbrennen, Schreddern.“ Mit
Dank an Nicola Glaubitz. Es gibt allerdings auch Autoren, die hervorheben, dass
eine einmalige, vollständige Überschreibung der Festplatte z. B. mit
Nullen völlig ausreichend ist, vgl. Bremer;Vahldiek 2003.
Mittlerweile existieren ganze Industrien, die sich auf die – u. U. extrem kostspielige – Rekonstruktion scheinbar unwiederbringlich verlorener oder vorsätzlich in vertuschender Absicht gelöschter Daten spezialisiert haben, vgl. etwa http://www.datarecovery.net/ (letzter Zugriff 25.12.2003). Vgl. auch Ahrendt 1997 und Rabanus 2000. [11] D. h. in diesem Beispiel
das Verhältnis des Wiedergabepegels des voll ausgesteuerten Magnetbandes zu
dem des gelöschten
Magnetbandes.
[12] Vgl. auch Turing 1987, S. 27, 29 und insbesondere 35, wo es explizit heißt: „Die Maschine [...] löscht alle x- und y-Buchstaben.“ [13]In Descartes Meditationes de prima philosophia von 1641 hatte die Wachsmasse noch eine völlig andere Bedeutung – dort geht es nicht um ihr Potenzial, löschbare Aufzeichnungen zu ermöglichen, sondern vielmehr um die substanzielle Identität des Wachses über alle Wandlungen hinweg (vgl. Descartes 1992, S. 52/53). [14] Der Sand spielt auch für Luhmann eine Rolle, der das Medium als etwas beschreibt, was nicht nur eine gewisse Viskosität, sondern auch eine „gewisse Körnigkeit“ (Luhmann 1998a, S. 53) aufweisen muss: Jedenfalls ist ein beliebtes Beispiel für Luhmanns Medium/Form-Differenz der Fußabdruck (oder eben ein gezeichnetes Gesicht) des Menschen im Sand. Und Sand besteht nun (wie viele Gesteine) vorwiegend aus Siliziumdioxid (SiO2), also einem Rohstoff, aus dem jenes Silizium gewonnen wird, was den späteren (eingeschränkten) Realisationen von Turings Maschine in Form von Halbleitern – also fast allen heutigen Computern – zu Grunde liegt. Und gerade das Auftauchen digitaler Medien wird (ob nun zu Recht oder nicht) immer wieder mit dem ‚Verschwinden des Menschen‘ verbunden (z.B. bei Kittler 1989, S. 32). So schließt sich der Kreis... Vgl. auch Balke 2002. [15] Vgl. Foucault 2001, S. S. 902: „Ich werde als Archiv nicht die Totalität der Texte bezeichnen, die für eine Zivilisation aufbewahrt wurden, noch die Gesamtheit der Spuren, die man nach ihrem Untergang retten konnte, sondern das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung [...] bestimmen“ (Hervorhebung, J. S.). [16] Hier müsste man das Geflecht von Techniken und Diskursen entwirren: So könnte man einerseits auf die von Audio-, Videocassetten und Disketten bekannten Löschschutzlaschen verweisen. Andererseits auf all die Regeln – bis hin zu polizeilich durchgesetzten Verboten – die ein vielleicht mögliches Löschen schlicht verbieten. [17] Es gab eine eigenartige Technik, der „Zwischenfilmsender“ der Fernseh AG von 1933, in der man versuchte, Filmmaterialien durch Löschung zu sparen. Der Film war in der Apparatur als Endlosschleife angeordnet. Nachdem sie seinen Zweck als Zwischenspeicher von Bildern erfüllt hatte, wurde die Emulsion vom Zelluloid automatisch abgewaschen (!), das Trägermaterial dann neu beschichtet und der Film konnte wieder eingesetzt werden. Dieses Verfahren vergeudete aber noch immer Emulsion und lieferte zu schlechte Bildqualität, um für die amerikanische Fernsehindustrie brauchbar zu sein. Vgl. Zielinski 1986, S. 62/63. [18] Diese Verfahren waren erstens die Querspuraufzeichnung, d. h. die Aufzeichnung der Signale nicht längs der Bandrichtung, was angesichts des Frequenzbereichs von Bildsignalen unglaublich hohe Bandgeschwindigkeiten benötigt hätte, sondern – durch eine rotierende Kopftrommel, auf der mehrere Schreibköpfe sitzen – quer zum Band. So kann ohne extremen Bandverbrauch eine ausreichend hohe relative Schreibgeschwindigkeit zwischen Kopf und Band erzielt werden (später wurde die Quer- durch die Schrägspuraufzeichung abgelöst, die es ermöglichte, pro Spur einen Frame aufzuzeichnen, z. B. um saubere Standbilder zu gewährleisten). Zweitens nutzten die Ampex-Ingenieure eine neuartige Frequenz-Modulation. Vgl. zu den technischen Details der Videoaufzeichnung Webers 2000, S. 424-531; zum Löschvorgang vgl. S. 440-442. [19] ‚Industrialisierung des visuellen Feldes‘ kann zweierlei bedeuten: Erstens die industrialisierte Herstellung von Bildträgern, die so z. B. bestimmte gespeicherte Ausschnitte des Visuellen reproduzierbar und distribuierbar machen. Zweitens bedeutet diese Entwicklung die Standardisierung bestimmter Wahrnehmungsformen. Ich blende im Folgenden die drittens ebenso wichtigen Funktionen technologischer Bilder für Disziplinartechniken im Sinne Foucaults aus. [20] Die Stereoskopie war etwa zwischen 1850 und 1880 eine der dominanten Weisen, in denen fotografische Bilder rezipiert wurden. Auf die besonderen Implikationen des Stereoskops kann hier nicht eingegangen werden. [21] Spätere Verfahren zur Umwandlung von Bildinformation oder Licht (was keineswegs das Gleiche ist, wie gerade Bakewells Dispositiv sehr deutlich zeigt) in Strom (Videoröhren, CCDs) arbeiten natürlich völlig anders. Bakewells Bildtelegraf ist einfach das erste praktikable Verfahren (1843 hatte Bain bereits einen Vorläufer vorgestellt), welches diese Transformation leistete. Vgl. zur Bildtelegrafie generell noch immer Korn 1923. Zu anderen Bildwandlern vgl. Webers 2000, S. 143-150. Zur Genealogie der CCDs vgl. Hagen 2002. [22] Bei aufwändigeren Videorecordern gibt es mehrere Löschköpfe auf der Kopftrommel, was einen sauberen Insert-Schnitt ermöglicht. [23] Es ist am Rande bemerkenswert, dass die Veränderung des Wertes der Arbeit auch in den frühen Texten zur – natürlich unlöschbaren – Fotografie eine Rolle spielten, vgl. Talbot 1980, S. 24: „[F]or the object which would take the most skilful [sic] artist days or weeks of labour to trace or to copy, is effected by the boundless powers of natural chemistry in the space of a few seconds.“ [24] Egglestons Arbeit passt im Ganzen kaum zu einer Genealogie des Löschens – das Bild sei hier nur gestattet, weil es so großartig den im Folgenden andiskutierten Foto-Müll zum Thema macht. [25] Wie man etwa auch an den Diskussionen um die Musealisierung der Videokunst sehen kann. [26] Ein anderes Problem ist gerade bei digitalen Daten, dass die Datenformate und die Lesegeräte mit der Zeit veralten – wer kann heute noch eine 5-Zoll Diskette lesen? [27] So hat sich etwa Gerhard Richter in seinem Atlas mit den Problemen von Fotografie, Archiv und Gedächtnis auseinander gesetzt, vgl. Buchloh 2002. Es sei offen gehalten, ob sich nicht auch in anderen – z. B. populären – Praktiken widerständige Formen des Archivierens oder des Löschens etabliert haben könnten. [28] Das Archiv kann auch auf löschbaren Medien beruhen, deren Löschung jedoch verboten ist. [29] Auf ein Beispiel, bei dem zwar nicht mit Video, jedoch mit löschbarem Tonband gearbeitet wird, hat mich Claire Zimmer hingewiesen. In ihrer Arbeit Information: No Theory (1970) nutzte Christine Kozlov ein Tonbandgerät, auf dem eine Endlos-Bandschleife lief, dazu, alle Geräusche im Ausstellungsraum aufzuzeichnen. Die aufgenommenen Geräusche wurden durch die neuen Aufnahmen gelöscht und überschrieben („The nature of the tape loop necessitates that new information erases old information“), vgl. Goldstein;Rorimer 1995, S. 154/155. [30] Information laut: http://www.sfmoma.org/MSoMA/artworks/93.html (letzter Zugriff Januar 2004). [31] Die man vielleicht auch an Cy Twomblys palimpsestischen Überschreibungen und Radierungen ablesen könnte, vgl. Barthes 1983, S. 19. [32] Vgl. Kümmel;Löffler 2002. Diese schöne Sammlung früher proto-medientheoretischer Texte zeigt, dass das Löschen vor der Entwicklung des Magnetofons 1935 im Mediendiskurs – nahe liegend – keine Rolle spielte. [33] Turings Gedankenexperiment folgte zeitlich allerdings sehr knapp nach der Vorstellung des Magnetofons 1935. Turing 1987, S. 20 beruft sich explizit auf einen rechnenden Mann als Vergleich zu seiner Papiermaschine – die Tilgung von Symbolen auf dem Papierband (S. 21) ist also nach dem Modell des Radiergummis gedacht. Jeder Mensch (auch Sie werte Leser/Innen) kann mit einem Bleistift, einem Radiergummi, einem langen Papierband und einer Zustandstabelle zur Turingmaschine werden. Turingmaschinen als logisches Konzept können – im Prinzip – in jeder Materie aktualisiert werden. Vgl. auch Kittler 1986, S. 164/165, der bemerkt, dass Turing später im Rahmen seiner militärischen Arbeit erwog, „ein erbeutetes Wehrmacht-Magnetophon als Datenspeicher in seinen projektierten Großcomputer einzubauen“. [34] So schreibt Luhmann 1998 in seinem Opus Magnum, zugleich seinem letzten Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1998b) über die für seine Gesellschaftstheorie fundamentale Medium/Form-Kopplung: „Dieser zeitliche Vorgang des laufenden Koppelns und Entkoppelns dient sowohl der Fortsetzung der Autopoiesis als auch der Bildung und Änderung der dafür nötigen Strukturen – wie bei einer von Neumann-Maschine“ (S. 199). In der Tat scheint nichts (außer vielleicht der Wachstafel) Luhmanns Begriff des Mediums, das ohne Form nichts ist, so zu entsprechen wie die (im Rahmen des Formalisierbaren und der Grenzen der Rechnerressourcen) universelle, und daher frei programmier-, d. h. ‚formbare‘ Turing/von Neumann-Maschine. |