JENS SCHRÖTERDAS MALEN DES MALENS Die Frage, ob und wie die Malerei zeitlich ausgedehnte Vorgänge darstellen kann, obwohl die von ihr erzeugten Bilder selbst unbewegliche Flächen darstellen, ist nicht neu. Bereits Lessing schied in seinem Laokoon-Aufsatz streng zwischen Kunstformen, die selbst in der Zeit ablaufen und solchen, die aufgrund ihrer eigenen Immobilität gezwungen sind, zur Darstellung von Zeit einen besonderen, „prägnantesten“ Augenblick zu wählen, aus dem sofort hervorgehen soll, was ihm vorhergeht (Vergangenheit) und was ihm nachfolgt (Zukunft).[1] So könnten die ‘statischen’ Kunstformen zeitliche Ausdehnung darstellen. Diese Auffassung impliziert, daß Zeit und Bewegung voneinander untrennbar sind. Jeder Prozeß, jede Art von Veränderung ist eine Form von Bewegung,[2] hat als solche eine zeitliche Ausdehnung und setzt damit die Zeit voraus. Umgekehrt macht es nur Sinn von einer Zeitspanne zu sprechen, wenn es Bewegungen gibt, die diese ausfüllen: “Zeit wird uns bewußt durch Bewegung im Raum“.[3] Lessings prägnantester Augenblick muß also gleichsam die Bewegung durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hindurch auf einen Punkt verdichten. Obwohl seine strikte Trennung zwischen Raum- und Zeitkünsten heute obsolet erscheint,[4] bleibt festzuhalten, daß seine Konzeption auf eine antike Auffassung von Bewegung verweist, nach der es in Prozessen bzw. Bewegungen einen ‘idealtypischen’ Moment gibt (oder zumindest soll er aus Bewegungen malerisch synthetisierbar sein), der die ‘Quintessenz’ des Ganzen in einem Augenblick ausdrückt:[5] „Für die Antike verweist die Bewegung auf intelligible Elemente: Formen oder Ideen, die selbst ewig und unbeweglich sind. Natürlich wird man zur Rekonstruktion der Bewegung solche Formen möglichst nah an ihrer Aktualisierung im Materiestrom erfassen. [...] Eine so aufgefaßte Bewegung besteht also im Übergang von einer Form zur anderen, das heißt in einer Ordnung von Posen oder von hervorgehobenen Momenten [sic!] wie in einem Tanz.“[6] Dieser Bewegungs-Konzeption entspricht die Darstellung von pluraler Zeit in einem Singularraum. Hier werden in einem homogenen Raum verschiedene für sich bedeutungstragende (‘herausgehobene’) Momente eines Ganzen simultan dargestellt. Dem widerspricht nicht, daß Baudson ausdrücklich betont, daß es „keine Ewigkeit des Augenblicks mehr durch die Intensität des Augenblicks [gibt], sondern eher eine Ewigkeit des privilegierten Ortes, dem einheitlichen raum-zeitlichen Rahmen der unterschiedlichen Handlungsszenen.“[7] Der Vervielfältigung und simultanen Darstellung herausgehobener Momente in einem homogenen Raum liegt immer noch Lessings Annahme zugrunde, daß eben bestimmte Momente optimal in der Lage seien, ihr Davor und Danach zu evozieren und so die Rekonstruktion eines kontinuierlichen zeitlichen Prozesses anhand bestimmter Ausschnitte aus demselben zu leisten. Das bedeutet nicht, daß dieser zeitliche Prozeß linear, von einer Vergangenheit in eine Zukunft strömend, gelesen werden müßte. Zu Der Hl. Franziskus und Szenen aus seinem Leben von Berlinghieri merkt Baudson an: „Das Werk erfordert einen ersten globalen Blick von Seiten des Betrachters; die Details aus dem Leben des Heiligen erscheinen ihm nicht wie eine Erzählung, sondern eher wie Erklärungen, Kommentare zu einem Ganzen [Hervorheb., J.S.].“[8] Hieran wird dieser Aspekt deutlich. Die Szenen aus dem Leben des Heiligen sind nicht chronologisch entlang einer Achse geordnet, jedoch sind es bestimmte Momente eines zeitlichen Ganzen, das sich über die Szenen hinaus und zwischen ihnen ‘hindurch’ erstreckt und von dem die Szenen ausgewählte, statische, ‘typische’ Ausschnitte repräsentieren sollen. Baudson weist daraufhin, daß der Raum in der simultanen Darstellung insofern Priorität genießt, als er homogen und kontinuierlich ist, während die Zeit in hervorgehobene Momente, „transzendente Formelemente“,[9] zerlegt ist, deren simultane Repräsentation Rückschlüsse auf ein größeres Ganzes zuläßt. Deleuzes Begriff der ‘transzendenten Formelemente’ verweist auf eine höhere, rein intelligible oder nur noch im Glauben zu erfassende Sphäre (das ‘Ganze’), die sich in den besonderen Momenten aktualisiert. Und tatsächlich zeigen die Beispiele, die Baudson für die simultane Darstellung anführt, genau auf diesen Punkt: Es sind stets Darstellungen von Heiligenviten, der Schöpfungsgeschichte, des Leidensweges Christi, der Sintflut, der Verbannung Adams und Evas aus dem Paradies usw. Diese aus dem Ganzen der Geschichte hervorgehobenen Momente repräsentieren nicht irgendeinen beliebigen Ausschnitt der Zeit, sondern ganz besondere Momente, die für die Menschwerdung des Menschen und sein Verhältnis zum Göttlichen von entscheidender Bedeutung sind. Diese simultane Darstellung bezeichnet Baudson auch als synthetisch, „indem mehrere unterschiedliche oder aufeinanderfolgende Augenblicke eines Erlebnisinhaltes in einem ‘einzelnen Raum’ aufeinandertreffen.“[10] Die Wendung in der Auffassung der Bewegung und damit der Zeit, die den Übergang zur kinematischen Darstellung markiert, beginnt an dem Punkt, wo die Bewegung und die ihr zugrundeliegende Zeitspanne durch die Existenz von ‘herausgehobenen Momenten’ nicht mehr als heterogen erscheint. Hier ist insbesondere der Schock zu nennen, den die Chronophotographie Mareys und Muybridges auf die malerische Darstellung von Bewegung ausgeübt hat. Auch in der Malerei, die sich von der Darstellung transzendenter Szenarien abgewandt hatte, wie z.B. Géricaults Course de Chevaux à Epsom (Abb. 1, 1821, 92 x 122.5 cm, Louvre Paris), war die notwendigerweise auf einen Augenblick kontrahierte Bewegung des Pferdes im Galopp noch immer eine synthetische Darstellung eines optimalen Moments, „aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird“,[11] - nämlich die Bewegung in der Zeit. Rodin merkte zu diesem Bild an: „Als Ganzes genommen, wirkt das in seiner Gleichzeitigkeit natürlich falsch; betrachtet man aber die einzelnen Phasen nacheinander, so wirkt der Eindruck durchaus richtig [Hervorheb., J.S.], ja, man hat dann die einzige Wahrheit, die für uns von Wichtigkeit ist, weil wir sie tatsächlich sehen, und sie uns lebhaft fesselt.“[12] Obwohl Rodin für die Malerei plädierte, wirkt in dieser Äußerung der Schock der Chronophotographie nach, denn er zerlegt unwillkürlich die synthetische Pose Géricaults in die einzelnen Bewegungsphasen. Mithin vollzieht er also genau den Prozeß nach, mit dem die Chronophotographie bewiesen hatte, daß kein der Bewegung transzendenter, „prägnantester“ Augenblick wirklich existiert, sondern daß Bewegung als „Funktion eines beliebigen Moments“[13] begriffen werden müsse. Die synthetische Darstellung, also simultane, hervorgehobene Momente in einem homogenen Raum, weicht der kinematischen, sukzessiven Darstellung der einzelnen, beliebigen Momente einer Bewegung. Da die kinematische Darstellung keinen Moment der Bewegung und auch damit keinen Zeitpunkt als irgendwie bevorzugt anerkennt, ist es nur konsequent, daß sie zu „neuen künstlerischen Perspektiven“[14] führen mußte. Hier stoßen wir erneut auf den interessanten Punkt, daß mit einem bestimmten Typ von Zeit-Darstellung ein bestimmter Gegenstands-Bereich tendenziell zu korrespondieren scheint: Waren es bei der synthetischen Darstellung vorwiegend Themen der christlichen oder antiken Ikonographie, so finden wir in Baudsons Text über die kinematische Darstellung vorwiegend Beispiele, die eine Abkehr von der gegenstandsbezogenen Malerei andeuten (Balla, Delaunay, Malewitsch).[15] Dieser Zusammenhang läßt sich damit begründen, daß eine synthetische Darstellung die Bewegung zu einer bestimmten Pose synthetisieren muß. Diese Pose erhält die gegenständliche Form des Dargestellten, da diese in der Abbildung nicht ‘zerfließt’ oder sich in verschiedene Bewegungsphasen verflüchtigt, sondern genau einen bestimmten, signifikanten, prägnantesten Moment in Ruhe zeigt. Zudem muß sich - wie oben schon erwähnt - diese ‘typische’ Pose auf ein intelligibles Referenzmodell[16] beziehen, das diesen, jeweiligen Moment als besonders hervorragend gegenüber jedem anderen Moment ausweist. Im Rahmen einer weltanschaulichen Referenz wie besipielsweise dem Christentum ist eine Predigt Christi an die Apostel nicht irgendeine beliebige Predigt, ebensowenig wie der Judaskuß irgendein Kuß oder irgendein Verrat unter anderen ist: Es ist der welthistorische Verrat schlechthin, durch den Christus seine Mission erfüllen und am Kreuz sterben kann.[17] Hans Holländer merkt dazu an: „Das ist überhaupt der Zentralbereich einer ‘Ikonographie des Augenblicks’. Mythische Themen wie Pygmalion, Daphne, Orpheus und Eurydike, Narziss gehören dazu, alttestamentliche Visionen, etwa die Ezechielvisionen, sodann aus dem neuen Testament die Augenblicke eines Wunders, einer plötzlichen Erkenntnis, einer Entscheidung und einer Vision.“[18] Holländers ‘Augenblick’ ist eng verwandt mit dem, was hier in Bezug auf die synthetische Darstellung der ‘herausgehobene’, ‘prägnanteste’ Moment genannt wurde, also ein dargestellter Moment, der kein chronophotographisch erfaßtes Bruchstück der Bewegung, sondern eine aus bestimmten simultan überlagerten Phasen gewonnene Pose höchster Ausdruckskraft darstellt: „Mit der simultanen Gegenwärtigkeit des Ungleichzeitigen - also der Bewußtseinszustände der Beteiligten, entzieht sich das Bild der bloßen Zeitfolge und stellt etwas dar, das sich außerhalb dieses Kontinuums befindet, dem alle Apostel ja ausdrücklich angehören. Der Augenblick der Entscheidung ist also kein Zeitpunkt, sondern die simultane Präsenz des ‘vorher’ und ‘nachher’ [Hervorheb., J.S.].“[19] Da Bewegung nach dem medialen Einschnitt der Chronophotographie in beliebige Momente zerlegbar erschien, sind alle Momente gleichrangig, kein besonderer Moment drängt sich hervor, der als solcher dargestellt werden müßte (die „bloße Zeitfolge“). Wie Mareys Plastik Die Flugphasen der Möwe oder Duchamps Gemälde Nu déscendant un éscalier No. 2 (Abb. 2, 1912, 146 x 89 cm, The Philadelphia Museum of Modern Art) zeigen, erscheint es nun möglich, die gesamten, gleichwertigen Bewegungsphasen eines Objektes zu einer malerischen Form zu vereinigen. Dies bedeutet die Abkehr von der festen, ruhenden, gegenständlichen Form der Objekte. Da die Bewegungsphasen gleichwertig sind und damit die Bewegung nun homogen erscheint, erübrigen sich für die kinematische Darstellung auch Referenzmodelle, wie z.B. christliche und antike Mythologien. Dies führt auch zu einer Abkehr von traditionellen Ikonographien,[20] die bestimmte „Augenblicke eines Wunders, einer plötzlichen Erkenntnis, einer Entscheidung und einer Vision“ (Holländer) gefordert hatten. Dies zeigt, daß von den zwei grundlegenden Darstellungsverfahren von Bewegung in der Malerei (zumindest tendenziell) ein je anderes Verhältnis zur Gegenständlichkeit und damit zur Darstellung des Raumes impliziert wird. So findet die synthetische Darstellung in „der Perspektivkonstruktion zum perfektionierten Ausdruck“,[21] da dieser homogene Raum als „szenographischer“[22] Raum für die verschiedenen, simultan erscheinenden, prägnanten Momente dient. Dagegen drängt die kinematische Darstellung zur Aufhebung des perspektivischen Illusionsraumes. Das Interesse der Malerei verlagert sich quasi von den im zentralperspektivischen Raum ruhenden Körpern im ‘prägnantesten Augenblick’ hin zur Darstellung der Bewegung selbst.[23] Diese Tendenz, die Bewegung als autonomes, für sich darstellungswürdiges Detail zu betrachten und von den konkreten Objekten abzulösen, spiegelt eine Tendenz, die Francastel als eine, die Renaissance-Konzeption des zentralperspektivischen Raums zurückdrängende, „Zerstörung des plastischen Bildraums“ in der „Epoche [...], in der das Photoobjektiv eine wichtige Rolle spielt“ begreift: „Vorbei auch die Regel, wonach man auf dem Hintergrund nur komplexe Einheiten darstellt: die Kunst entdeckt das autonome Detail [z.B. die Bewegung, J.S.]. Bisher war der Raum immer als eine Sphäre betrachtet worden, in die Objektsysteme eingetaucht waren; man stellte den Raum, wenn man so will, nur dar, indem man verschiedene Dinge gleichzeitig in einem Rahmen zusammengefaßt zeigte; von nun an entdeckt man die Möglichkeit, die Vorstellung des Raums, ausgehend von der Darstellung eines Details, zu vermitteln. Auf diese Weise wird der traditionelle Gesichtspunkt nach und nach aufgegeben.“ [24] Das Malen ist selbst eine Bewegung im Raum, das heißt ein zeitlich ausgedehnter Prozeß. Seine malerische Darstellung erfordert also auch Verfahren, um seine zeitliche Ausdehnung in das unbewegte, zeit-lose[25] Bild der Malerei zu transformieren. Nach unseren Überlegungen stehen die synthetische[26] und in der Moderne die kinematische Darstellung zur Verfügung. Als Beispiel für das erste Verfahren eignet sich die Allegorie der Malkunst[27] von Jan Vermeer van Delft (Abb. 3, um 1665, 120 x 100 cm, Kunsthistorisches Museum Wien): Der Maler sitzt auf einem Hocker, den Rücken wendet er dem Betrachter zu. Er sitzt vor seiner Staffelei, auf der eine in hellgrau gehaltene Leinwand aufgestellt ist. Seine Hand ruht auf dem Malstab, einen Pinsel haltend. Auf der Leinwand sehen wir den bereits weitgehend in blau-grün fertiggemalten Lorbeerkranz seines Modells, welches tiefer im Raum vor einer großen Wandkarte der Niederlande steht. Es ist mit eben jenem Lorbeerkranz bekränzt, ein gelbes Buch und eine Trompete haltend. Unterhalb des Armes des Malers ist auf der Leinwand eine in weiß ausgeführte Umrißskizze zu erkennen, die das werdende Bild als halbfigurige Darstellung ausweist. Schon diese Beschreibung impliziert eine gegenständliche Darstellung.
Die dargestellten Gegenstände und Figuren sind plastisch modelliert, und so
ist auf der Bildfläche die Farbe zu einem „Objektsystem“ in
einem „szenographischen Raum“ (Francastel), der „seichte[n]
Bühne des Bildes“,[28]
organisiert. Asemissen lokalisiert den Fluchtpunkt dieser perspektivischen
Raumorganisation „ein paar Zentimeter schräg links unter der
Holzkugel der
Kartenstange“.[29] Diese
Anmerkungen zur Gegenständlichkeit und zur Raumorganisation von Vermeers
Darstellung legen nach den obigen Überlegungen ein Bewegungskonzept nahe,
das dem Lessings entspricht. Also müßte in der Allegorie der Malkunst
ein ‘prägnantester Augenblick’ für die Darstellung
gewählt worden sein, „aus welchem das Vorhergehende und das Folgende
am begreiflichsten wird“.[30]
Und tatsächlich: Auf der Leinwand sehen wir, was der Maler bereits gemalt
hat (Vorher), nämlich den Lorbeerkranz, und was der Maler noch malen wird
(Nachher), die Umrißskizze. Der dargestellte Moment ist also einer, aus
dem hervorgeht, daß der Malprozeß eine zeitliche Ausdehnung hat,
daß er Bewegung im Raum ist. Wäre das Bild im Bild bereits fertig
oder wäre nur die Umrißskizze zu sehen, würde diese zeitliche
Ausdehnung nicht so ‘prägnant’ zum Ausdruck kommen. Aber oben
ging auch hervor, daß dem prägnantesten Moment eine
heterogenisierende Bewegungskonzeption zugrundeliegt, die bestimmte Posen in
Bezug auf ein Referenzmodell als eben besonders ideal-typisch ausweist. Kann ein
solches Referenzmodell in Vermeers Darstellung aufgefunden werden?
Das Mädchen, welches der Maler malt, kann ikonographisch als Klio, die
Muse der Geschichtsschreibung identifiziert werden. Zunächst zeigt allein
diese Tatsache, daß Vermeer sich auf ein „gewichtiges
Standardwerk“,[31]
nämlich Cesare Ripas Iconologia (1593, niederländisch seit 1644), also
einen bis in die Antike zurückreichenden Schatz mythologischer
Sinnstrukturen als Referenz, bezogen hat. Noch eklatanter wird dieser
Zusammenhang, wenn man bedenkt, daß „die Darstellung einer Muse in
Verbindung mit einem Vertreter der Künste traditionell [Hervorheb., J.S.]
dessen Inspiration bedeutet“. Daraus kann abgeleitet werden, daß das
Modell, als Klio, Repräsentantin einer höheren Sphäre ist - eine
Muse, von der ein göttlicher Funke der Inspiration auf den Maler
überspringt.[32] Der
prägnanteste Augenblick der Darstellung ist markiert durch den Pinsel in
der Hand des Malers, der sich auf dem Weg vom Lorbeerkranz hin zur Vollendung
der Umrißskizze befindet. Der Maler wiederum ist ‘göttlich
inspiriert’. So verweist Vermeers Darstellung der Malbewegung auf eine
rein intelligible, bzw. nur im Rahmen mythologischer Referenzmodelle begreifbare
Sphäre, in der der Anstoß zu Malen überhaupt seinen
Ausgangspunkt findet.
Noch verschärfen läßt sich diese Lesart, wenn man von dieser ikonographischen Bezugnahme wieder zur konkreten Darstellung Vermeers zurückgeht. Er zeigt den Maler, seine Hand, den Pinsel, die Leinwand, das Modell und dessen werdende Darstellung als Bild. Vermeers Vorgehensweise könnte man folgendermaßen umformulieren: „Ein Maler benutzt mit seiner Hand ein Werkzeug - seinen Pinsel -, um seine Vorstellung von dem Modell auf der Leinwand zur Darstellung zu bringen“. Zu Beginn seiner Analyse der „Geste des Malens“ bemerkt Vilém Flusser: „Sieht man einem Maler bei seiner Tätigkeit zu, so glaubt man, einen Prozeß zu beobachten, bei welchem sich auf eine im Grunde undurchschaubare Weise verschiedene Körper (etwa der des Malers und seiner Werkzeuge, Malfarben und eine Leinwand) so bewegen, daß dabei ‘zum Schluß’ ein Gemälde herauskommt. Allerdings hat man dabei, wie gesagt, das Gefühl, den Prozeß nicht durchschaut zu haben, und projiziert daher hinter die beobachteten Bewegungen eine weitere unsichtbare Bewegung eines unsichtbaren Körpers, etwa die ‘Absicht des Malers’ oder seine ‘Idee des zu malenden Gemäldes’ [oder die ‘göttliche Inspiration’, J.S.]. Eine solche Anschauung der Maltätigkeit, welche als ein Beispiel für die okzidentale Weltanschauung überhaupt dienen kann, führt zu den bekannten Erklärungsversuchen der angeblich beobachteten Phänomene, bei denen die Schwierigkeit darin besteht, das Angleichen der ‘Idee’ ans Gemälde, des ‘Subjekts’ ans ‘Objekt’ (oder wie immer man dieses berüchtigte dialektische Paar nennen will) zu erklären.“[33] Flusser spricht auch davon, daß die Aufstellung eines Kataloges „der sich in der Geste bewegenden Körper“[34] immer wieder auf die cartesische Dichotomie von Materie (der konkrete Maler, res extensa) und Geist (seine Inspiration oder Idee, res cogitans) zurückführt. Mit Flussers Augen betrachtet, wäre in Vermeers Darstellung ein solcher „Katalog von Körpern“ dargestellt, der immer die unsichtbare „Idee“ des „göttlich inspirierten Malers“ impliziert. Ohne Vermeers Darstellung als „metaphysisch“ zu bewerten, bleibt doch festhalten, daß auch unter diesem Blickwinkel Vermeers Darstellung auf einen rein intelligiblen Horizont verweist, der die Hand des Malers mit dem Pinsel auf der Leinwand als ‘prägnantesten’ Moment in der Malbewegung definiert. So gesehen ist die Allegorie der Malkunst die konsequente Darstellung der zeitlichen Malbewegung im unbewegten Gemälde unter der Prämisse, daß Bewegung auf intelligible Formen verweist, das heißt zur „Rekonstruktion der Bewegung“ sind „solche Formen möglichst nah an ihrer Aktualisierung im Materiestrom“[35] darzustellen: Die inspirierende Muse und der inspirierte Maler.[36] Vermeer ist nicht an der Darstellung des „autonomen Details“ (Francastel) der konkreten Malbewegung als solcher gelegen, sondern an einer allegorischen Darstellung der intelligiblen oder nur im Glauben zu erfassenden Horizonte, die die Maltätigkeit begründen und tragen: „[D]as Bild selbst ist eine Allegorie.“[37] Ganz anders verfährt Jackson Pollock Jahrhunderte später, „im Zeitalter des Photoobjektivs“ (Francastel): Seine Arbeit No. 32 (Abb. 4, 1950, 269,24 x 457,2 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf) zeigt auf der ungrundierten Leinwand schwarze Farbspritzer und -kleckse, die das Bildfeld nicht völlig homogen bedecken. Vielmehr sind an zahlreichen Stellen Verdichtungen zu sehen, die als die Stellen der Leinwand, auf die Pollock die Farbe geschleudert hat, identifiziert werden können. An den ‘leereren’ Stellen zeigt sich die Leinwand. Zu den Rändern hin nimmt die Dichte der Farbspritzer etwas ab.[38] Wie kann man sich bei diesem Bild der Frage nach der Darstellung des Malprozesses im Bild annähern ? Zunächst ist es ein Leichtes zu konstatieren, daß weder „Objektsysteme“ noch ein „szenographischer Raum“ vorliegen. Die Farbspuren konstituieren keine wiedererkennbaren Gegenstände, noch einen perspektivischen Tiefenraum. Von einer angedeuteten Tiefe kann bestenfalls in Hinsicht auf die Überlagerung verschiedener Farbspritzer gesprochen werden. Auffällig ist, daß sowohl die Leinwand als auch die Farbe stark in ihrer Materialität hervortreten. Als erste Annäherung könnte man sagen, daß hier eine Umkehrung Vermeers vorliegt: Traten dort Farbe und Leinwand in ihrer Materialität zurück, um sich zu einer gegenständlichen, szenographischen Raumordnung zu konfigurieren, sind hier Farbe und Leinwand zu solchen Eigenwerten geworden, daß ihre Subsumierung unter ein „Objektsystem“ nicht mehr in Frage kommt. War bei Vermeer eine unbemalte, rohe Leinwand nur fiktiv als die des fiktiven Malers im szenographischen Raum gegeben, so ist bei Pollock die Leinwand für sich selbst im konkreten Gemälde anwesend. Diese Verschiebung von der Fiktion zur Konkretion kann als Hinweis dienlich sein: Francastel hat darauf hingewiesen, daß es im 19. Jahrhundert möglich wird, „die Vorstellung des Raums, ausgehend von der Darstellung eines Details, zu vermitteln.“[39] Baudson wiederum spricht davon, daß zu einer ähnlichen Zeit der „Umfang und die Schnelligkeit der Bewegung“[40] selbst, statt ihrer symbolischen Stillstellung im ‘prägnantesten Augenblick’, für die Malerei darstellungswürdig wurde. Die konkrete Malbewegung Pollocks ist jenes ‘Detail’, das nun zum „Zentrum wird, das die gesamte Komposition erhellt.“[41] Bei Vermeer wurde die konkrete Malbewegung in ihrem Umfang und ihrer Schnelligkeit nicht sichtbar, sondern vielmehr ihr „symbolischer Stillstand in ihrer Darstellung“,[42] symbolisch verweisend auf den Künstler als Empfänger und Realisateur einer göttlichen Inspiration. Bei Pollock ist die Malbewegung in ihrem konkreten Umfang selbst abgebildet. Sind seine Bewegungen heftiger, sind die Spritzer der Kleckse weiter auseinandergestreut: „Nicht zwei Formen sind im Pollockschen Bild von gleicher Gestalt. Dies resultiert aus den Unterschieden in den Malaktionen. Die Verschiedenheit der einzelnen Aktionen bewegt sich in einem angebbaren Bereich. Die Heftigkeit der Malbewegungen sinkt nicht in ganz ruhige, langsame Bewegungen ab, überschreitet aber auch nicht jenes Maß an Heftigkeit, welches an den großen Klecksen mit den faserigen Ausläufern ablesbar ist.“[43] Die Leinwand ist konsequenterweise nicht grundiert, denn eine Grundierung in ihrer Kontinuität und Homogenität würde die malerischen Bewegungen, die zu ihrer Enstehung geführt haben, nicht selbst sichtbar machen und so zumindest ansatzweise auf jenes Zurücktreten des konkreten Malprozesses wie z.B. bei Vermeer u.a. zurückverweisen. Die Leinwand ist nicht mehr der szenographisch zu negierende, materielle Träger der Bildinformation, die ein „Fenster zur Welt“[44] illusioniert, also einen fiktiven Durchblick durch die damit in ihrer Materialität geleugnete Leinwand. Vielmehr wird sie, gerade in ihrer konkreten Materialität, zum Speicher der konkreten Malgeste, wie Pollock sie durchgeführt hat. Der zeitlich ausgedehnte Malprozeß wird verräumlicht, in neben- und übereinandergeordneten Klecksen, Spuren gespeichert. Oder wie Rohsmann formuliert: „Realzeit kann in der aktionsbetonten Kunst nur abhängig von ihrer Verräumlichung gezeigt werden, das heißt Vergegenständlichung der Zeit ist an ein Objekt gebunden, das seine Lage im Raum ändert. Dies kann ein beliebiger, vom Produzenten ausgewählter Gegenstand, kann, wie in der konventionellen Malerei Farbe, kann der Künstler selbst sein.“[45] So betrachtet, realisiert Pollock den Grenzfall der kinematischen Bewegungsdarstellung mit dem Malprozeß als ‘Sujet’. Die Zeit des Malens wird durch Pollocks Bewegung auf der Leinwand Raum. Alle Malbewegungen sind gleichrangig und gleichermaßen aufgespeichert.[46] Kein Moment der Malbewegung ist in der Darstellung privilegiert. Hierzu muß man anmerken, daß die All-over Struktur in No. 32 nicht über die Bildränder hinwegreicht. So würde das Bild suggerieren, ein Ausschnitt aus einem größeren ‘Ganzen’ zu sein. Zwar ließe sich das All-over „potentiell“[47] fortsetzen, Tatsache ist jedoch, daß sich das All-over deutlich sichtbar zum Rande des Bildes hin ausdünnt, und daß es kaum Farbspuren gibt, die vom Bildrand überschnitten werden. Es gibt im engeren Sinne kein fiktives Hors-champ des Bildes, auf den das Bild hin verweisen würde, sondern nur die konkreten Malspuren im Bild, die zu seiner Entstehung geführt haben. Bei Vermeer hingegen fällt das Licht, das die Szene erhellt, von einem vom Betrachter nur postulierbaren Ort außerhalb des sichtbaren Bildraums herein, jenes Licht, das auf „geistige Erleuchtung, Inspiration“[48] hindeutet. Auch der für die synthetische Darstellung charakteristische Bezug auf ein intelligibles Referenzsystem fällt weg. Schon dadurch, daß keine Gegenstände auf der Bildfläche konstituiert werden, die eine ikonographische Fortschreibung bestimmter mythologischer Traditionen ermöglichen. Auch in Hinsicht auf Flussers Argumentation ist diese Malerei absolut nur noch auf ihre eigene Enstehung, die sie aufspeichert, bezogen. War Vermeers Darstellung mit dem Maler vor der Muse, an der Leinwand, mit dem Pinsel in der Hand, als auf die (cartesische) Dichotomie von physischem Maler und intelligibler Inspiration hin lesbar, als Aufspaltung der Geste in Subjekt und Objekt,[49] so ist Pollocks Bild die Verräumlichung der „Geste des Malens“ selbst: „Spezifische Phasen der Geste, zum Beispiel ein spezifisches Zurücktreten von der Leinwand oder ein spezifischer Blick bedeuten Selbstkritik, Autoanalyse. Man braucht keine metaphysischen Begriffe wie ‘den Geist des Malers’, welcher irgendwie über der Geste schwebt, um diese Phasen zu erklären (wiewohl solche Begriffe tief in unseren Denkgewohnheiten wurzeln und unsere Beobachtungen verzerren). Sie sind aus der konkreten Gestalt der Geste selbst ersichtlich.“[50] Jedem, der die Filme Hans Namuths[51] über die konkrete Arbeitsweise Jackson Pollocks gesehen hat, dem ist dieser Aspekt durchaus vertraut. Gegenüber der oft verallgemeinerten Auffassung, Pollocks action painting würde die totale Befreiung spontaner, unbewußter Gestik von bewußter Kontrolle deklarieren und somit in der Tradition der surrealistischen écriture automatique stehen,[52] zeigen diese Filme deutlich jenes von Flusser beschriebene ‘autoanalytische’ Zurücktreten in der Geste des Malens.[53] Die vollständige Speicherung des ganzen „Umfangs“ (Baudson) der Malbewegung stellt keinen „Katalog der sich in der Geste bewegenden Körper“[54] auf - wie Vermeer es mit der Darstellung des inspirierten Malers und der inspirierenden Muse tat. Vielmehr werden die Spuren jener unteilbaren, intentionalen[55] Geste, der „Geste des Malens“, selbst durch die Farbtropfen, -spritzer und - kleckse verräumlicht und gespeichert. Diese „Speicherung“ zeigt auch noch etwas anderes. Der mediale Umbruch durch Photographie und Film führt nicht nur dazu, daß die Bewegung als Funktion eines beliebigen Moments erfaßt wird. Denn diese Erfassung des beliebigen Moments basiert auf einem neuen Typus von Bildern, die sich radikal und – so scheint es auf den ersten Blick – absolut von den gemalten Bildern unterscheiden. Die Emergenz von Photographie und Film ist das Auftreten des indexikalischen Bildes: „Ein Index ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit in einer Zweitheit oder in einer existentiellen Relation zu seinem Objekt liegt. [...] Das indizierte Objekt muß tatsächlich vorhanden sein: dies macht den Unterschied zwischen einem Index und einem Ikon aus. [...] So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird.“[56] Die entscheidende Differenz zwischen Photographie und Malerei ist also, daß das photographische Bild eine Spur des Realen ist, während das malerische Bild die phänomenale Seite des Realen bloß „simuliert“.[57] Dabei ist es jedoch sehr wichtig, diesen Aspekt der Indexikalität vom Aspekt der Referentialität zu trennen. Denn die Tatsache, daß es eine kausale, physikalische Relation zwischen Photographie und Bild gibt, garantiert keineswegs, daß das Bild als Bild-von-einem-Gegenstand identifizierbar ist.[58] Es ist ja durchaus möglich, einen Gegenstand so zu photographieren, daß keine (referentiell identifizierbare) Ikonizität auf dem Photo vorliegt.[59] Und umgekehrt können auch auf Bildern, die nicht kausal mit ihren Referenten verbunden sind (wie eben auf gemalten oder in digitalen Bildern) Gegenstände identifiziert werden. Daran zeigt sich, daß die Gegenüberstellung von Malerei und Photographie anhand der Differenz indexikalisch : nicht-indexikalisch zu verkürzend ist: Denn auch die Malerei hat eine indexikalische Ebene, nämlich genau in Hinsicht auf die Einschreibung der Malbewegung in das Bild. Schon der feinste Pinselduktus verweist auf die Hand des Malers, die, um Barthes zu paraphrasieren,[60] dagewesen-sein-muß.[61] Die Differenz zwischen Indexikalität und Referentialität zeigt sich also selbstreferentiell auch in der Malerei selbst: Wo die Indexikalität Überhand nimmt, verflüchtigt sich zunehmend der Gegenstand. Die Sache, die bei der Malerei stets dagewesen sein muß, ist eben nicht der Referent, sondern der Maler. Rückt dieser (als eigentlicher Referent) in den Mittelpunkt, zieht sich der Referent (im Sinne des abgebildeten Sujets) zurück. So betrachtet, realisiert Pollocks action painting nicht nur den unüberschreitbaren Grenzfall der malerischen (Mal-)Bewegungsdarstellung.[62] Zugleich ist das action painting in seiner radikalen und nicht-ikonischen Indexikalität die Form der Malerei, die - auch wenn es seltsam klingt - dem zentralen semiotischen Prinzip der Photographie am nächsten steht.[63] Pollocks No. 32 verweist nur noch indexikalisch auf den konkreten Malprozeß, in dem das vorliegende Bild entstanden ist.[64] Der allgemeine kausale Bezug zwischen Malbewegung und Bild ist hier Gegenstand des Bildes. Und diese Beobachtungen zeigen erneut, daß Medien schwerer zu differenzieren sind, als die ebenso häufigen wie undurchdacht schematischen Gegenüberstellungen – Raum- oder Zeitkünste, indexikalische oder ikonische Bilder etc. - vermuten lassen. [1] Vgl. Gotthold Ephraim
Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. 1766.
Nachdruck. Stuttgart 1990, S. 115; vgl. im allgemeinen Gottfried Boehm: Bild und
Zeit. In: Hannelore Paflik (Hrsg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und
Wissenschaft. Weinheim 1987, S.
1-23.
[2] Vgl. Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild. Darmstadt 1987, S. 41f.; zur „Zeitordnung der verstehenden Wahrnehmung“, vgl. Lorenz Dittman: Überlegungen und Beobachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes, in: Neue Hefte für Philosophie 18/19 (1980), S. 133-148. [3] Vgl. Margarethe Jochimsen: Zeit zwischen Entgrenzung und Begrenzung der bildenden Kunst heute. In: Michel Baudson (Hrsg.): Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst. (Kunsthalle Mannheim, 11. Juli 1985 - 1. September 1985; Museum Moderner Kunst, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 19. September 1985 - 17. November 1985; Katalog zur Ausstellung 'Zeit - die Vierte Dimension in d. Kunst). Weinheim 1985, S. 219-239. [4] Vgl. schon Etienne Souriau: Time in the Plastic Arts. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 7.4 (1949), S. 294-307, hier: S. 294: „Nothing is more dangerous for the exact and delicate understanding of the plastic arts [...] than the rather banal description ‘arts of space’, in contrast to the phonetic and cinematic arts [...] characterized as ‘arts of time’.“; vgl. auch Ernst H. Gombrich: Der fruchtbare Moment. Vom Zeitelement in der bildenden Kunst. In: ders.: Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Oxford 1982. Nachdruck. Stuttgart 1984, S. 40-62. Vgl. auch Theissing (wie Anm. 2), S. 26f. Auch Dagobert Frey: Das Zeitproblem in der Bildkunst. In: Studium Generale, 8.9 (1955), S. 566-577, hier insb. S. 571, tendiert dazu, Ruhe und Bewegung nicht unvermittelt einander gegenüberzustellen: „Ruhe ist Grenzform der Bewegung; Bewegung kann in Ruhe übergehen, Ruhe umfaßt potentiell die Bewegung, die aus ihr hervorgehen kann“. [5] Wobei wichtig ist, zu betonen, daß dieser ‘idealtypische Moment’ kein stillstehender Moment in der Bewegung ist. Eine solche Annahme würde geradewegs zu den Paradoxien Zenons führen. Gombrich (wie Anm. 4), S. 45: „Sobald wir annehmen, daß es einen Bruchteil der Zeit gibt, in dem keine Bewegung stattfindet, wird Bewegung an sich unerklärlich“. Daher auch Gombrichs Hinweis (S. 44), daß ein solcher Moment vom Maler (oder in seinem Beispiel der Photograph, der die Production Stills anfertigt) künstlich hergestellt, synthetisiert werden muß. [6] Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Paris 1983. Frankfurt/M 1990, S. 16f. [7] Michel Baudson: Pluralzeit und Singularraum. In: Baudson (wie Anm. 3), S. 109-113, hier: S. 113. [8] Ebd., S. 110. [9] Deleuze (wie Anm. 6), S. 17. [10] Baudson (wie Anm. 7), S. 109. [11] Lessing (wie Anm. 1), S. 115. [12] Rodin, zitiert bei: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Paris 1988. Nachdruck. Berlin 1989, S. 13. [13] Deleuze (wie Anm. 6), S. 18. [14] Vgl. Michel Baudson: Von der kinematischen Darstellung zur vierten Dimension. In: Baudson (wie Anm. 3), S. 159-166, hier: S. 163. [15] Ebd., S. 162 f. [16] Vgl. Deleuze‘s ‘ewige und unbewegliche Formen oder Ideen’. [17] Vgl. Baudson (wie Anm. 7), S. 110. Es ist wichtig zu präzisieren, daß die weltanschauliche Referenz zunächst das Sujet der Darstellung bestimmt (z.B. Szenen aus dem Leben Christi). Dann stellt sich für den Künstler erst die Frage, welche Ereignisse (Bewegungen) er auf den „prägnantesten“ Punkt hin zusammenzieht. [18] Hans Holländer: Augenblicksbilder. Zur Zeit-Perspektive in der Malerei. In: Christian W. Thomsen und Hans Holländer (Hrsg.): Augenblick und Zeitpunkt. Darmstadt 1984, S. 175-197, hier: S. 177. [19] Ebd., 183. [20] Zur Entstehung einer „neuen Ikonographie der Moderne“, die sich besonders auf Fortbewegungsmittel wie die Eisenbahn bezieht (schon bei Turner hebt diese neue Ikonographie an), vgl. Sigrid Schade: Inszenierte Präsenz. Der Riß im Zeitkontinuum (Monet, Cézanne, Newman). In: Georg Christoph Tholen und Michael O. Scholl (Hrsg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 211-229, hier: S. 219. [21] Yvonne Spielmann: Zeit, Bewegung, Raum. Bildintervall und visueller Cluster. In: montage/av, 2.2 (1993), S. 49-68, hier: S. 50. Zur Kohärenz des zentralperspektivisch organisierten Bildraums vgl. Erwin Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. [Vortrag von 1927]. Berlin 1992, S. 99-167, hier: S. 101. [22] Pierre Francastel: Die Zerstörung des plastischen Bildraums. In: Peter Bürger (Hrsg.): Seminar: Literatur- und Kunstsoziologie, Frankfurt/M 1978, S. 371-393, hier: S. 373f. [23] Baudson (wie Anm. 14), S. 159f.: „Die Malerei drückt nämlich zum ersten Mal den Begriff der Schnelligkeit aus, das heißt den Umfang und die Schnelligkeit der Bewegung, und nicht mehr nur ihren ‘Höhepunkt’, den symbolischen Stillstand in ihrer Darstellung“. Auch Gabriele Hoffmann: Intuition, durée, simultanéité. Drei Begriffe der Philosophie Henri Bergsons und ihre Analogien im Kubismus von Braque und Picasso von 1910 bis 1912. In: Paflik (wie Anm. 1), S. 39-64, hier S. 63 assoziiert in ihrer Diskussion der Kubisten mit Bergson die „Frage nach der Wirklichkeit des Gegenständlichen“ mit der „Frage nach der Wirklichkeit der Zeit“. [24] Francastel (wie Anm. 22), S. 387. [25] Zeit-Losigkeit soll hier die Nichtbeweglichkeit des malerischen Bildes bezeichnen. Zur Zeit-Losigkeit in dem anderen Sinne der (angeblichen) ‘überzeitlichen Gültigkeit’ ästhetischer Aussagen, vgl. Wilhelm Perpeet: Von der Zeitlosigkeit der Kunst. In: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 1 (1951), S. 1-28. [26] Die synthetische Darstellung möchte ich im folgenden allgemeiner als Baudson fassen. Er verknüpft sie mit simultaner Darstellung, meiner Meinung nach liegt das Wesentliche dieses Darstellungsverfahrens jedoch in der ‘heterogenisierenden’ Auffassung von Bewegung. [27] Auch: Die Malkunst, Das Atelier des Malers oder Der Ruhm der Malkunst. Im Original: De Schilderconst. [28] Hans Sedlmayr: Jan Vermeer: Der Ruhm der Malkunst. In: ders.: Epochen und Werke. Bd. 2. 1951. Nachdruck. Wien 1960, S. 107-116, hier: S. 107. [29] Hans Ulrich Asemissen: Jan Vermeer. Die Malkunst. Aspekte eines Berufsbildes. Frankfurt/M 1988, S. 35. [30] Lessing (wie Anm. 1), S. 115. [31] Vgl. Asemissen (wie Anm. 29), S. 35. [32] Ebd., S. 48. Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß von jüngeren Interpretationen von Vermeers Gemälde die traditionellen ikonographischen Deutungen, wie sie sowohl Assemissen als auch Sedlmayr (u.A.) vorgelegt haben, kritisiert wurden. Norbert Schneider: Vermeer 1632-1675. Verhüllung der Gefühle. Köln 1996, S. 81-84 weist daraufhin, daß diese Interpretationen, die Vermeers Bild in die Tradition des Paragone stellen, nicht begreiflich machen können, warum die Karte an der Wand einen Zustand der Niederlande zeigt, der zum Zeitpunkt der Erstellung des Gemäldes schon längst geschichtlich überholt war. Außerdem weist er auf die Tatsache hin, daß Klio ja Muse der Geschichte und nicht Muse der Malkunst ist und stellt sie als solche in Zusammenhang mit den Requisiten auf dem Tisch. Kurzum: Seiner Auffassung nach steht das Bild Vermeers viel eher in einem politisch-historischen Zusammenhang, und daher datiert er es auch um. Schneider zufolge muß die Allegorie der Malkunst um 1673, d.i. kurz nach dem Bund Willems III. mit dem habsburgischen Kaiser, Spanien und Lothringen entstanden sein. Wiewohl viel für Schneiders kohärente Neu-Interpretation spricht, scheint es mir im Sinne meines allgemeineren bildtheoretischen Interesses vertretbar zu sein, hier exemplarisch auf die älteren ikonographischen Lesarten zu rekurrieren. [33] Vilém Flusser: Die Geste des Malens. In: ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/Bensheim 1991, S. 109-126. Hier: S. 109. In ähnlicher Weise benennt Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände. München 1998, S. 218: „Das In-sich-gekehrt-Sein des Künstlers als ein[en] Vorrat einer Bewußtheit, die in grundlegender Weise von der Welt der Erscheinungen differiert“ als „eine Grundprämisse westlicher Kunst.“ [34] Flusser (wie Anm. 33), S. 111. Vgl. auch ebd., S. 119: „Was wir sehen, ist nicht das Zusammenwirken von Körper und Geist, sondern eine Geste, und es kann bezweifelt werden, ob es Situationen gibt, in denen wir konkret einen Körper ohne Geist (der Leichnam sei hier ausgeklammert), oder einen Geist ohne Körper beobachten können. Geist und Körper sind Extrapolationen aus dem konkreten Phänomen ‘Geste’, nachträgliche ‘Erklärungen’, und zwar der Körper nicht weniger als der Geist, und sie bilden nur einen abstrakten ‘theoretischen’ Horizont.“ [35] Deleuze (wie Anm. 6), S. 16. [36] Vgl. dazu auch Asemissens (wie Anm. 29), S. 36 Erwähnung, daß die perspektivische Konstruktion des Raums zur Hervorhebung des Malers leicht verzerrt ist. Auch Sedlmayrs (wie Anm. 28) Analyse des Bildes deckt eine ähnliche Verweisungsstruktur auf. Nicht nur führen auf das Modell, die ‘Muse’, „alle Blicklinien hin“ (S. 114), sie scheint vielmehr noch von einer „feine[n] Lichtaura“ (S. 116) umgeben. Der hintere Teil des Bildraums, wo sie sich aufhält, ist für Sedlmayr die Sphäre der „Idealität“ (S. 109), während sich der Maler „mit halbem Blick dem Modell zu[wendet]“ (S. 112). Allerdings darf hier nicht unterschlagen werden, daß Asemissen (wie Anm. 29), S. 50 anderer Meinung ist: „Wenn somit überhaupt eine Inspiration stattfindet, dann in umgekehrter Richtung: nicht der Maler wird von einer Muse inspiriert, sondern er inspiriert das Modell, eine Muse darzustellen“. Meiner Auffassung nach liegt in dieser These aber kein grundsätzlicher Bruch mit der Setzung des „unsichtbaren Körpers“ (Flusser) der Inspiration vor. [37] Sedlmayr (wie Anm. 28), S. 111. Dazu paßt, daß das auf dem Tisch liegende, geöffnete Skizzenbuch und die dortige Maske als Symbole für den ‘disegno’ und die ‘imitazione’ gelesen werden können, vgl. ebd., S. 112. [38] Für eine ausführlichere Beschreibung, vgl. Ekkehard Putz: Jackson Pollock. Theorie und Bild. Hildesheim und New York (Dissertation). 1975, S. 216 f. [39] Francastel (wie Anm. 22), S. 387. [40] Baudson (wie Anm. 14), S. 160. [41] Francastel (wie Anm. 22), S. 387. [42] Baudson (wie Anm. 14), S. 160. [43] Putz (wie Anm. 38), S. 218. [44] Vgl. Panofsky (wie Anm. 21), S. 99 f. [45] Arnulf Rohsmann: Manifestationsmöglichkeiten von Zeit in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Hildesheim/Zürich/New York 1984, S. 49. [46] Was nicht bedeutet, daß jedes „Gespritze“ gleichrangig ist. Pollock hat selbst oft Bilder während des Malens verworfen, weil er den „Kontakt“ zum Bild verlor, jedenfalls hat er sich so 1950 Pollock geäußert (zitiert bei: Elizabeth Frank: Jackson Pollock. München und Luzern 1984, S. 79). [47] Putz (wie Anm. 38), S. 226. Putz untersucht weiterhin, wie dieser Effekt die optimale Ausstellungsweise von No. 32 determiniert, vgl. ebd., S. 227. [48] Sedlmayr (wie Anm. 28), S. 115. [49] Flusser (wie Anm. 33), S. 118f. [50] Ebd., S. 116. [51] Hans Namuth/Paul Falkenberg: Jackson Pollock, Drehzeit September/Oktober 1950, 16 mm, Uraufführung: 14.6.1951 im Museum of Modern Art, New York. [52] Vgl. hierzu C.L. Wysuph: Psychoanalytic Drawings. New York 1970, S. 9-30; Putz (wie Anm. 38), S. 242. Natürlich soll ‘oft verallgemeinert’ nicht bedeuten, daß Pollock nicht auch „aus dem Unbewußten heraus“ (Pollock, zitiert bei Frank (wie Anm. 46), S. 93) gemalt hätte. Dieser Aspekt ist jedoch zu oft zum allein bedeutenden Aspekt von Pollocks Arbeit hypostasiert worden. Eine an der Existenzphilosophie orientierte Lektüre von Pollocks Werk liefert Margaret Rowell: La Peinture, Le Geste, L`Action. Paris 1972. [53] Vgl. Frank (wie Anm. 46), S. 79. [54] Flusser (wie Anm. 33), S. 111. [55] Ebd., 112 f. Der bei Flusser in seiner Beschreibung mitschwingende Intentionalitäts-Begriff kommt von Husserls transzendentaler Phänomenologie her. Entscheidend daran ist, daß dieser Begriff - so nimmt die Phänomenologie an - in der Lage ist, die Subjekt/Objekt-Dichotomie aufzubrechen: „Wenn wir die Geste des Malens beobachten, sehen wir nicht irgendein geheimnisvolles Zusammenschweißen von Maler und Material in einem Prozeß, bei dem als Synthese ein Gemälde ‘herauskommt’, sondern die Geste des Malens. ‘Maler’ und sein ‘Material’ sind Worte mit denen wir die Geste erklären und nicht umgekehrt: wir beobachten nicht, wie die Bedeutungen dieser Worte zusammenkommen. ‘Maler’ und sein ‘Material’ kommen nach der Geste [als Abstraktionen, J.S.], werden aber zu Vorurteilen, weil wir sie in die Beobachtungen hineinprojizieren. Das bedeutet selbstredend nicht, daß Herr X nicht auch konkret außerhalb der Geste des Malens beobachtet werden könnte. Aber es bedeutet, daß er außerhalb der Geste nicht als Maler zu sehen ist.“ (S. 119). Die Emphase Flussers auf die Gegebenheit des Phänomens „Malen“ als bedeutungsvolle Geste entspricht exakt Husserls Annahme, daß Welt und Subjekt nicht zunächst getrennt sind und sich dann aufeinanderzubewegen, sondern daß wir schon immer in-der-Welt-sind und uns in bedeutungsvollen, ‘intentionalen’ Gesten auf diese richten und in dieser Geste das ‘Subjekt’ als Intendierendes und das ‘Objekt’ als Intendiertes zusammenfließen, sodaß jede Aufspaltung solcher Gesten in einen ‘Katalog’ daran beteiligter Körper eine nachträgliche Abstraktion von der konkreten Geste darstellt. [56] Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt 1983, S. 65. [57] Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M. 1989, S. 13. [58] Vgl. Oliver Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung. Freiburg 1991, S. 64-81. [59] Allerdings ist hier eine Präzisierung notwendig. Der ebenfalls von Peirce vorgeschlagene und später stark verkürzt rezipierte Begriff des ikonischen Zeichens, also eines Zeichens, welches über seine Ähnlichkeit mit dem Referenten bezeichnet, ist unhaltbar, wie Scholz (wie Anm. 58), S. 16-63 mit Nelson Goodman aufweist. Der Begriff wird im vorliegenden Zusammenhang nur benutzt, um die Ebene, auf der ein Bild referentiell bezeichnet, abzusetzen von der Ebene, auf der ein Bild ggf. in kausalem Konnex zu einem Referenten steht. [60] Vgl. Barthes (wie Anm. 57), S. 86: „Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können ‘Chimären’ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der Photographie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist.“ [61] Vgl. Hubert Damisch: Vorwort. In: Krauss (wie Anm. 33), S. 7-13, hier: S. 10. [62] Darstellungen, die den Malprozeß in Bewegung und in Echtzeit abbilden sind nur in kinematographischen oder videographischen Aufzeichnungen möglich, vgl. Clouzots Film Le mystère Picasso, Frankreich 1956. Die Darstellung des Malprozesses bei Pollock darf gegenüber den anderen Aspekten seiner Arbeit, auf die einzugehen mir der Rahmen dieses Aufsatzes verbietet, nicht überbewertet werden, sonst kommt es zu den Verzerrungen, die Frank (wie Anm. 46), S. 83f. beschreibt. [63] Vgl. Rosalind Krauss: The Optical Unconscious. Cambridge/Massachusetts 1994, S. 259-266. Rosalind Krauss hat stets darauf insistiert, daß der mediale Einbruch der Photographie auch die benachbarten Künste der Ordnung des „Photographischen“ unterworfen hat, vgl. dazu die Aufsätze in Krauss (wie Anm. 33). [64] Hier ist allerdings zu präzisieren, daß dies natürlich nicht per se für alle Bilder von Jackson Pollock gilt. Es gilt nicht für Pollocks gegenständliche oder von indianischer Wandmalerei beeinflußten Frühphasen, aber auch für viele späte Bilder, in denen Pollock wieder vom radikal gestischen action painting abgerückt ist. Es geht mithin nicht um ein „genialisches“ Subjekt „Pollock“ und dessen „revolutionäre Leistungen“, sondern um ein Problem medialer Ausdifferenzierung. |