Jens Schröter

Das Film-Ich
Anmerkungen zu Telephonen und Plattenspielern in Maya Derens Meshes of the Afternoon (USA 1943).

Der Film Meshes of the Afternoon, den Maya Deren und Alexander Hamid 1943 drehten, ist vielleicht die bekannteste Arbeit der Filmemacherin. Der etwa fünfzehn Minuten lange Film - so Deren (1984: 58) - ,,beschäftigt sich mit dem Innenleben eines einzelnen Menschen und reproduziert die Art, in der das Unbewußte ein scheinbar einfaches und zufälliges Ereignis entwi[c]keln, interpretieren und zu einer kritischen emotionalen Erfahrung verarbeiten kann. [...] Teil der Ausarbeitung dieses Films ist die Art und Weise, in der die Filmtechniken verwendet werden, um unbelebten Objekten eine boshafte Vitalität zu verleihen." (Deren 1984: 58). Und umgekehrt werden nicht nur unbelebte Objekte vitalisiert, sondern auch das Selbst der Protagonistin scheint sich erst in der Kollision mit den Objekten herauszuschälen: ,,In Meshes of the Afternoon, the heroine undertakes an interior quest. She encounters objects and sights as if they were capable of revealing the erotic mystery of the self." (Sitney 1979: 11). Bemerkenswert ist nun, daß zwei dieser Objekte Medientechnologien sind: Nämlich das Telephon und der Plattenspieler. Und diese Technologien sind beide Technologien zur Übertragung oder zur Aufzeichnung von Klängen. Das Telephon ist die erste Technologie, die die Telepräsenz fremder Stimmen an meinem Ohr ermöglicht, der Phonograph (oder der Plattenspieler) ist die erste weitverbreitete Medientechnik, die die Stimme vom Körper abkoppeln kann. Folglich bemerkt Kittler (1986: 39) zum Phonographen: ,,Denn während es (mit Derrida) den sogenannten Menschen und sein Bewußtsein ausmacht, sich sprechen zu hören [...], trennen Medien solche Rückkopplungsschleifen auf." Anders gesagt: beide Technologien führen eine radikale Dislozierung traditioneller Konzepte personaler Identität ein. Es kann jetzt Stimmen ohne Körper geben1 und dank dem (stummen) Bewegungs-Bild des Kinos - wie in Meshes - Körper ohne Stimmen. Das Telephon und das Grammophon sind daher Objekte, die sich im Surrealismus einer gewissen Beliebtheit erfreut haben.2 Bei Dali etwa finden wir ein surrealistisches Objekt, das Hummer-Telephon (1936), oder einige Gemälde, auf denen Telephone zu finden sind, wie etwa die Strandszene mit Telephon von 1938. In René Magrittes Gemälde Der bedrohte Mörder (1927) lauscht jener geistesabwesend einem Grammophon, im Hintergrund liegt das Opfer seiner Schandtat - eine junge Frau, der er offenbar die Kehle durchschnitten hat und aus deren Mund etwas Blut tropft. Der tote Körper ist der Körper ohne Stimme, was die durchschnittene Kehle zusätzlich unterstreicht. Meshes endet mit einem vergleichbaren Bild: eine junge Frau, leichenblass, tot, mit durchschnittener Kehle.3

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Die Trennung von Körper(bild) und Stimme ist schon deswegen eine Verschiebung der Konzeption der personalen Identität, weil es immer die Stimme (oder manchmal die Proxemik) zu sein schien, die den Schluß auf das ,,Innenleben einer Person", also auf ein Geschehen, welches von keiner ,,anderen Person bezeugt werden könnte", wie Deren (1984: 57) über Meshes bemerkt, zuzulassen schien. Wir sehen in Meshes eine Handlung, die der Traum eines Anderen ist. Damit zeigt der Film etwas, das realiter absolut unsichtbar bleiben muß. Und da wir es sehen, sehen können, brauchen wir keine Stimme, die für ein Subjekt spricht, welches uns seinen Traum schildern will.4 Konsequenterweise vertritt Deren die Auffassung, ,,daß bewegte Bilder eher ein visuelles denn ein verbales Medium sind" (19). Und es ist ein Medium des Schnitts: ,,Zwei Gründe, die dem Film Anschlüsse ans Reale versagen. Er speichert statt der physikalischen Schwingungen selber sehr global nur ihre chemischen Effekte auf sein Negativmaterial. [...] Ein Medium, das den Kurvenzügen seiner Eingangsdaten unmöglich folgen kann, darf von vorneherein Schnitte vornehmen. Anders käme es gar nicht zu Daten. Alle Filmsequenzen sind seit Muybridges Experimentalanordnung Abtastungen, Ausschnitte, Selektionen. [...] Als Phantasma unserer illudierten Augen reproduzieren auch Schnitte die Stetigkeiten und Kontinuitäten einer Bewegung. Phonographie und Spielfilm stehen zueinander wie Reales und Imaginäres." (Kittler 1986: 182/183). Die ursprüngliche Zerstückelung des Kinos - sei es in Hinsicht auf die 24 diskreten Bilder pro Sekunde, sei es in Hinsicht darauf, daß Filmbilder immer ein Off haben und deshalb immer Synekdochen sind (vgl. Sitney 1979: 10) - kontrastiert mit den stetigen ,,Frequenzkurven", die ,,ihre Wellenformen der phonographischen Platte einschreiben" (Kittler 1986: 21). Die Zerstückelung des Körpers der Protagonistin in der letzten Einstellung von Meshes ist so betrachtet eine Analogie zur Tätigkeit des Kinos überhaupt. In diesem Film werden die Telephone stets unterbrochen (durch ausgehängte Hörer) und die Plattenspieler werden abgeschaltet. Dies zeigt Derens Primat des Sichtbaren, das ja sogar das radikal Unsichtbare, wie eben den Traum eines Anderen, zeigen können soll5, über das Sagbare (vgl. Deren 1984: 19-22).
Maya Deren hatte stets eine Vorliebe für die Zeitlupe, die die ,,Sichtbarmachung von zweifelhaften Bemühungen und der Bedeutungsvielfalt, die sich unter der Oberfläche einer Handlung verbirgt" (Deren 1984: 41; vgl. Sitney 1979: 41) darstellt.6 Und: ,,Zeitlupe ist etwas, das tatsächlich in unserem Kopf existiert, nicht nur auf der Leinwand[...]" (Deren 1984: 42). So gesehen werden die filmische Zeitlupe, d.h. filmische Techniken überhaupt, zur Metapher des Selbst des von Deren vielfach beschworenen ,,Innenlebens" und lösen damit, wie so oft im 20. Jahrhundert7, den Phonographen als Modell des Bewußtseins - der er etwa bei Guyau 1880 noch war8 - ab. Gewissermaßen läßt sich an Meshes of the Afternoon, dies sei abschließend unsere These, symptomatisch ein zeitgenössisches Modell des Bewußtseins ablesen. Angesichts des disruptiven Schocks der Trennung von Körper und Stimme erscheinen die visuellen Verkettungen als das angemessene Bild des ,,eigentlichen Selbst" des Menschen. Wenn Deren über Meshes schreibt, er reproduziere die ,,Art, in der das Unbewußte ein scheinbar einfaches und zufälliges Ereignis entwi[c]keln, interpretieren und zu einer kritischen emotionalen Erfahrung verarbeiten kann" (Deren 1984: 58), dann bedeutet das umgekehrt, daß das (Un)bewußte wie ein Film strukturiert ist: ,,[F]ilm becomes a process of self-realization" (Sitney 1979: 18). Schließlich ist es in Meshes of the Afternoon das Auge der Protagonistin, welches den Übergang vom Innen zum Außen markiert (und umgekehrt). Und dieses Selbst erscheint als nur mehr fragmentiertes. Zwar ist diese Feststellung heute ohne Zweifel ein unerträgliches Klischee - aber dennoch: Da wir nichts denken können, was nicht symbolisiert ist, können auch wir ,,uns selbst" mit unseren ganzen Wahrnehmungs-, Erinnerungs und Affektbildern nicht anders begreifen als im ,,Spiegel unserer Maschinen" (vgl. Meyer-Drawe 1996), insbesondere unserer Zeichen-Maschinen. Für Maya Deren und ihre Zeit (und noch bis heute) sind die montierten, flackernden, fragmentarischen Bilder des Kinos (und später dann des Fernsehens) Vor-Bild des Bewußtseins. Aber es zeichnet sich schon ab, daß sehr bald der Computer die leitendeMetapher für das ,,uns selbst" abgeben wird. Das ,,fraktale Subjekt" (vgl. Baudrillard 1991) dämmert schon am Horizont...und die medialen Produkte einer gegebenen historischen Phase sind die beste Quelle, um solche Bilder des ,,Menschen" (und ihre ideologischen Implikationen) zu eruieren; was sich an Meshes of the Afternoon in seltener Klarheit zeigt...

Literatur:

Baudrillard, Jean (1991) ,,Videowelt und fraktales Subjekt". In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter. Leipzig: Reclam, S. 252-264.
Benjamin, Walter (1977) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Crary, Jonathan (1990) Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass./London: MIT Press.
Därmann, Iris (1995) Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte. München: Fink.
Deren, Maya (1984) Poetik des Films. Wege im Medium bewegter Bilder. Berlin: Merve.
Doane, Mary-Ann (1985) The Voice in the Cinema. The Articulation of Body and Space. In: Movies and Methods, Vol. II. Hrsg. von Bill Nichols. Berkeley, S. 565-576.
Gorsen, Peter (1983) Salvador Dali, der ,,kritische Paranoiker". Frankfurt a.M.: EVA.
Kittler, Friedrich (1986) Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose.
Meyer-Drawe, Käte (1996) Der Mensch im Spiegel seiner Maschinen. München: Fink (Reihe Übergänge).
Sitney, P. Adams (1979) Visionary Film. The American Avant-Garde 1943-1978. Oxford, New York, Toronto, Melbourne: Oxford Univ. Press.

1 Ihnen kommt gewaltige, phantasmatische Macht zu, wie die uralte Erzählung von der göttlichen Stimme, die donnernd von überall und nirgends kommt, berichtet. Mary-Ann Doane (1985: 572) bemerkt zum Voice-Over im Kino: ,,It is precisely because the voice is not localizable, because it cannot be yoked to a body, that it is capable of interpreting the image, producing its truth."

2 Und zwar deswegen, weil ,,in der Text- und Bildproduktion des Surrealismus zahlreich [...] Zerstückelungs[...]phantasien" (Gorsen 1983: 61), zu denen man auch die körperlose Stimme zählen könnte, anzutreffen sind. Obwohl Meshes in vielem stark dem Ansatz des Surrealismus nahezukommen scheint, insistiert P. Adams Sitney, daß Meshes kein surrealistischer Film sei (1979: 14), da Meshes als ein ,,psycho-drama" vielmehr auf ,,inward exploration" (18) gerichtet sei und nicht darauf ,,to imitate the very discontinuity, the horror and the irrationality of the unconscious" (11). Wir wollen hier auch keine voreiligen Gleichsetzungen betreiben, sondern lediglich auf gewisse übereinstimmende Motive verweisen, auch wenn Maya Deren dem Surrealismus stets skeptisch gegenüberstand.

3 Daß Magritte Deren beeinflußt haben könnte, räumt P.A. Sitney an einem anderen Beispiel ein (1979: 15).

4 Vgl. Deren (1984: 28), wo sie zur ,,stummen Kamera" bemerkt: ,,Das unterscheidet Film noch einmal von der Theatertradition, die im großen und ganzen auf Wortwechseln aufgebaut ist, und zwingt ihn dazu, ein Ereignis einen Zustand oder eine Mentalität zu zeigen."

5 Obwohl für Maya Deren das ,,fotografische Bild [...] Grundelement des Films ist" (1984: 34), bedeutet dies nicht ,,daß man sich demzufolge darauf beschränken darf, nur die Wirklichkeit als solche abzubilden" (35).

6 In vergleichbarer Weise sprach auch Benjamin (1977: 36) in Zusammenhang mit der Zeitlupe vom Optisch-Unbewußten".

7 Hier wäre etwa Bergson zu nennen, der den Kinematographen - wenn auch tendenziell eher ablehnend - heranzog oder sogar an Edmund Husserl, dessen eidetische und transzendentale Phänomenologie vielfach von den zeitgenössischen Medientechniken wie der Photographie und der Kinematographie geprägt ist, wie Iris Därmann (1995, 311-322) gezeigt hat. In Zusammenhang mit der Zeitlupe ist es interessant, daß Husserl sich der ähnlichen Metapher der ,,phänomenologische[n] Lupe" (zit. in: ebd., 277) bediente.

8 Kittler, der Guyau zitiert, bemerkt allerdings kritisch zu Guyaus Vorstellung des Denkens-als-Phonograph: ,,Daß der Phonograph nicht denkt, ist seine Ermöglichung" (1986: 56). Jonathan Crary (1990: 25-67) weist darauf hin, daß im Europa des 17. Und 18. Jahrhunderts die Camera Obscura das Modell des Denkens war.