Jens Schröter


Appropriation im Kino?

Überlegungen ausgehend von Boris Groys und Emir Kusturicas ARIZONA DREAM (USA/F 1993).


In seinem Text zur Appropriation Art bemerkt Boris Groys einleitend, daß die Appropriation im allgemeinen als zentrales Merkmal der sog. ”postmodernen” in Unterschied zur ”modernen” Kunst gilt. Die autonome, bildende Kunst der Moderne unterlag dem Gebot, innovativ zu sein und stets neue Bilder zu entwickeln. Da dieses Gebot verbietet, sich an bestehende Formen anzulehnen und die Fülle der bereits existierenden Formen ständig wächst, bleibt schließlich nur noch die Alternative in die puristische Leere beispielsweise der Konzeptkunst zu flüchten (wobei diese These allerdings zuwenig die Möglichkeiten neuer, beispielsweise interaktiver Bilder durch neue Medien berücksichtigt). Die postmoderne Kunst kann demgegenüber als Befreiung gewertet werden, die die Geschichte der modernen Kunst selbst als Ressource verwendet, um aus deren Bildreservoir ohne Angst vor Wiederholung andere (und nicht so sehr neue) Formen zusammenzusetzen.

Ich habe Groys Argumente hier extrem verkürzt und zudem eine Position wiedergegeben, die Groys selbst als nur eine von verschiedenen, sich widerstreitenden Auffassungen zur Appropriation Art anführt. Aber darauf kommt es hier nicht an. Gleich, ob man die Appropriation Art nun als revolutionäre Ermächtigung des Künstlersubjekts, als Ohnmachtserklärung gegenüber der Bilderflut oder als unvermeidliche Voraussetzung heutiger Kunstproduktion ansieht: Aus den obigen Bemerkungen ergibt sich, daß es im Medium Film und in der Institution Kino eine derartige Strategie der Appropriation, wie sie in der bildenden Kunst entwickelt wurde, nicht geben kann.

Film und Kino haben eine völlig andere Geschichte als die bildende Kunst: Es ist nicht nur so, daß Film/Kino viel jünger sind. Das Kino kennt auch nicht im selben Maße eine ”Moderne”. Inszenatorische und narrative Formate wie das classical hollywood cinema (Bordwell/Thompson) haben sich von ungefähr 1917 an bis heute fast bruchlos und unverändert erhalten, während die bildende Kunst seit Beginn ihrer ”Autonomie” gerade mit jedem neuen Ismus oder jeden neuen Soundso-Art (wozu vielleicht doch noch die Appropriation Art gehört) die eigenen, gerade eben noch gebildeten, Konventionen und Formate zu transgredieren suchte.

Da zumindest der größte Teil des Kinos schon wegen der immensen Herstellungskosten kommerziell sein muß, beschränken sich Innovationen meist auf Trickeffekte und gelegentlich neue Sujets. Die ständige Wiederholung bestimmter Bildtypen, Erzählformate, Genres und Topoi ist ein notwendiges Mittel, um eine möglichst breite Anschlußfähigkeit für das Publikum und d.h. nichts anderes als die Verkäuflichkeit sicherzustellen. Die Macht dieser Formate führt dazu, daß der Autor nicht die gleiche, starke Rolle spielen kann wie in der bildenden Kunst (und die Mythisierungen des Autors und ihre Dekonstitution sind ja gerade ein Impuls hinter der Appropriation Art). Im Kino spielen die Namen, Gesichter, Stimmen und Körper der Stars eine viel wichtigere Rolle (wie man an fast jedem Filmplakat sehen kann): Und gerade ein für die Vermarktung von Filmen unerläßliches Mittel wie das Starwesen, das sich schon sehr früh entwickelte, ist ebenso zwingend auf referentielle Bilder, die einen Star zu sehen geben, angewiesen, wie auf Erzählungen, in denen der Star zum Handeln gezwungen wird. Daß der Film zudem ein zeitlich ausgedehntes Medium auf der Basis von (jedenfalls teilweise) indexikalischen Bildern ist, ist Vorbedingung sowohl für seinen dominant narrativen Charakter wie für seine Fixierung auf die Re-Präsentation begehrenswerter Körper. Schon deswegen kann es im Film/Kino einen Ikonoklasmus wie in der bildenden Kunst der Moderne kaum geben. Die sich aufhäufenden Filme der Vergangenheit sind keine erstickende Bilderflut, sondern die selbstverständlich vorauszusetzende und in Remakes und Sequels freudig begrüßte Tradition, gegen die zu spielen zumindest keinen ökonomischen Sinn macht.

Interessanterweise kommt auch Groys in bezug auf die bildende Kunst zu einem ähnlichen Schluß, nämlich dem, daß der Künstler heute mehr denn je vom ”gespeicherten Bildrepertoir des musealen Archivs abhängig ist”. Jedoch formuliert er auch, daß der Künstler heute ”mittels der Appropriation unterschiedlicher Bilder seine eigenen Kontexte aufbauen” muß – aber gerade das Aufbauen der eigenen Kontexte hat zumindest im standardisierten kommerziellen Kino kaum einen Platz.

Die institutionelle und diskursive Rahmung von sog. bildender Kunst ist also völlig verschieden von der eines großen Teils des Kinos. Erstere gehört eben zur Institution ”Kunst” (die auch einen Flaschentrockner zur Kunst erheben kann), zweiter zum weiten Feld der ”Populärkultur”, was im übrigen nicht heißt, daß die bildende Kunst ”gute Kunst” und das Kino ”schlechte Massenkultur” ist (auch wenn die Kunstszene dies verständlicherweise gerne glaubt). Es kann im Kino keine Appropriation wie in der bildenden Kunst geben, da die Appropriation Art in der bildenden Kunst auf eine auch und gerade institutionelle Struktur und Entwicklung antwortet, die es in vergleichbarer Form im Kino schlechthin nicht gibt. Und andersherum folgt daraus, daß wenn es so etwas wie Appropriation im Medium Film geben sollte, dies zwingend im institutionellen Feld ”Kunst” stattfinden müsste.

Und tatsächlich gibt es im Kino keine klare Trennung zwischen ”Kunst” und ”Massenkultur”. Es existiert nicht nur das sog. ”Kunstkino” (womit in Europa vornehmlich europäische Filme assoziiert werden). Auch viele Filme, die dem classical hollywood cinema angehören, sind ebenso überdeteminiert worden durch eine Figur eines Autors, was ein wichtiges Symptom für die Einrückung in die diskursive Praxis ”Kunst” ist. Gerade die Filme Alfred Hitchcocks oszillieren an dieser Grenze. In den sechziger Jahren wurde Hitchcock von den Institutionen der Filmkritik und Filmtheorie als Auteurentdeckt und seine psychoanalytisch inspirierten Plots (die so wunderbar an theoretische Diskurse anschließbar sind) und deren Produktion von suspense, bestimmte Formen der Inszenierung, Kameraführung und Montage wurden zum ”Stil”, ein Begriff, der von dem des Autors kaum abtrennbar scheint. Gegenüber solchem Autoren-Kino scheint eine Art von Appropriation möglich zu sein, insofern hier eine der Angriffsflächen der Appropriation Art gegeben ist, nämlich die institutionelle Fixierung eines Autors.

Man könnte sich als hypothetische Möglichkeit vorstellen, daß ein Künstler einen Film von Hitchcock aus dem Kinosaal abfilmt und dann nochmals als – frei nach Sherrie Levine – After Hitchcock in die Kinos bringt (Douglas Gordon hat das mit Andy Warhols Empire tatsächlich getan: Bootleg Empire heißt diese Arbeit). Abgesehen von den urheberrechtlichen Problemen (die zentral zu den institutionellen Bedingungen der Autorschaft gehören), dürfte ein Hauptproblem hier die Vermarktung und der Verleih sein (welche im Kino eben eine andere Rolle innehaben).

Mir scheint, daß in einer Sequenz des Films ARIZONA DREAM von Emir Kusturica einige Möglichkeiten und Probleme einer Appropriation im Kino durchgespielt werden. In dieser Sequenz geht es um einen skurrilen Talentwettbewerb in einer amerikanischen Kleinstadt. Einer der Protagonisten, Paul Leger (Vincent Gallo), nimmt an diesem Wettbewerb teil. Zunächst muß er bereits seinen Namen etablieren, da die Moderatorin diesen falsch ausspricht. Daraufhin kündigt Leger an, daß er eine Szene im ”Alfred Hitchcock-Stil” spielen wird, nämlich jene berühmte (d.h. zum Archiv gehörende) Sequenz aus North by Nordwest (USA 1959), in der, wie er ebenfalls explizit betont, ”Cary Grant” (also der Star) auf offenem Feld von einem Schädlingsbekämpfungsflugzeug angegriffen wird. Zwei zentrale Knotenpunkte des Diskurses „Kunst”: Stil und Autorname (und zwar der Legers und der Hitchcocks) werden hier ebenso etabliert, wie eine der für das kommerzielle Kino zentralen Größen: Der Star. Die Grenzbewegung von Hitchcocks Filmen zwischen Kunst und Massenkultur wird hier einleitend thematisiert.

Leger steht auf einer kleinen Bühne, vor ihm das Publikum und eine Jury (also eine Institution), die die Darbietungen bewertet. Als er beginnt die Maisfeld-Szene zu spielen, werden Ausschnitte der Hitchcock-Sequenz von Kusturica einmontiert. Dabei korrelieren die Bewegung die Paul Leger ausführt, weitgehend den Bewegungen, die Cary Grant vollführt. Besonders absurd daran, ist, daß Grant in der Maisfeldszene zunächst nur herumsteht, später dann rennt und sich zu Boden wirft. Ebenso steht Leger zunächst herum, um sich dann auf die Bühne zu werfen. Nur konsequent, daß Legers Darbietung von der Jury zerrissen wird: Er bekommt nur eine 1 (bis 9 ist möglich). Empört reagiert Leger: Erkennt ihr nicht wahre Kunst... Und natürlich erkennt die Jury die ”Kunst” nicht: was in der Hitchcock-Sequenz in Zusammenspiel vieler Elemente (und gerade auch der Rezeption und ihrer institutionellen Lenkung) als ”Kunst” zählen kann – das Herumstehen Cary Grants – wird dekontextualisiert zur Absurdität. Gerade diese Kontextabhängigkeit zeigt Kusturica durch die Gegenüberstellung des Hitchcock-Materials und der Darbietung Legers. Daß liegt auch daran, daß für die realen Zuschauer von Kusturicas Film die Szene Hitchcocks sichtbar ist, während sie den innerdiegetischen Zuschauern des Talentwettbewerbs verborgen bleibt (die Frage, ob die eingeschnittenen Hitchcock-Bilder gewissermaßen „innere Bilder” von Leger sind, klammere ich hier aus). Wir können uns über die dekontextualisierte Wiedergabe der Szene durch Leger amüsieren, wissen aber damit auch, worauf sich seine Bewegungen überhaupt beziehen. Aber selbst wenn man North by Northwest kennt, bleibt das eingeschnittene Material ein selbst aus dem Zusammenhang von Hitchcocks Film gerissenes Einsprengsel: Schon von der bloßen Erscheinung her (den Technicolor-Farben) ist es deutlich unterschieden von Arizona Dream, macht also schon dadurch die verstrichene Filmgeschichte sichtbar. Zugleich schließt Vincent Gallo als Leger jedoch an diese Szene an, indem er die Szene nachspielt. Daß Filme verstehen nur vor dem Hintergrund des Archivs möglich ist, welches also aufzugreifen notwendige Voraussetzung jedes weiteren (kommerziellen) Films ist, wird so deutlich. Die Differenz zwischen dem realen und dem innerdiegetischen Publikum inszeniert nochmals die Abhängigkeit von „Kunst” von einem Feld des Wissens.

Und schließlich zeigt Kusturica durch das Einmontieren des Hitchcock-Materials, daß es im Film das singuläre Original, welches zu verdoppeln und dadurch zu de-originalisieren gerade eine weitere Konzeption der Appropriation Art ist, eigentlich nicht gibt. Die Ausschnitte aus North by Northwest sehen genauso aus wie die entsprechenden Passagen in einer kompletten Vorführung des Films erscheinen würden. DAS GILT AUCH FÜR STURTEVANT...aber in APPROPRIATION ART hat das Artefakt keine Zeitlichkeit]. Es gibt beim Film zwar eine erste Negativ-Kopie, von der alle weiteren Positiv-Kopien für den Verleih gezogen werden, doch diese sind selbst alle gleichranging und keine ist näher am Original als die andere. Filme sind (wie übrigens auch Fotografien seit Talbots Kalotypie und in noch fundamentalerer Weise die digitalen Bilder) schon ursprünglich seriell, sodaß gerade eine bloße Verdoppelung eines Films nicht denselben Effekt haben kann wie die Verdoppelung eines auratischen Werkes der Malerei, zumal Kusturica (anders als Douglas Gordon) nur einen Ausschnitt aus einem zeitlich ausgedehnten Ganzen verdoppelt.

Letztlich bleibt also zu sagen, daß jede Übertragung des Terminus Appropriationaus Medien wie Malerei und Fotografie und dem diskursiven Feld der „Kunst” auf das Medium Film und die heterogenen dazugehörigen diskursiven Felder mit äußerster Vorsicht anzustellen ist.