Jens Schröter
BIOMORPH.
Anmerkungen zu einer neoliberalen Gentechnik-Utopie.
Die beständige Kontinuität des Prozesses, das ungehinderte und
flüssige Übergehn des Werts aus einer Form in die andre, oder
einer Phase des Prozesses in die andre, erscheint als Grundbedingung für
die auf Kapital gegründete Produktion.
Mit den Biotechnologien gehen ebenso wie mit den
Computertechnologien Phantasien über ihre möglichen künftigen
Effekte einher. These ist, daß sich gerade in den extremsten Phantasien
eine ideologische Funktion der Diskurse über die Gentechnik zeigt. Im
Folgenden soll ein Aspekt skizziert werden, nämlich das in Begriffen wie
„Designer-Baby“ anklingende Phantasma, die Gentechnik könne und
solle nicht nur bislang unheilbare Krankheiten heilen, sondern die ganze Form
des menschlichen Körpers neu definieren und dabei
optimieren. [2] Schon 1985 hat Bruce
Sterling in seinem Cyberpunk-Roman Schismatrix die in ferner Zukunft
gelegene Aufspaltung der Menschheit in zwei Spezies – die Shaper
und die Mechanists –
geschildert. [3] Diese Auflösung
der bisherigen
„Menschen-Form“ [4] ist
durch die Anpassung der Menschen an die Bedingungen der interstellaren Raumfahrt
verursacht. Während die Shaper die Optimierung ihrer Körper
durch Biotechnologien betreiben, setzen die Mechanists auf kybernetische
Prothesen. [5] Die Bio- und die
Computertechnologien sind die Technologien, um die der sogenannte
„Posthumanismus“ kreist. Mit dieser Bezeichnung wird ein diffuser
und heterogener Bereich von Praktiken und Phantasmen beschrieben, in welchem der
menschliche Körper als Material gentechnologischer Umformungen, als Element
neuartiger Mensch/Maschine-Synthesen (Stichwort: Cyborg) oder gar als
verzichtbares Vehikel für einen mit Hilfe von Computertechnologien bald
auch körperlos existierenden Geist beschrieben
wird. [6] Solche (mehr oder weniger
phantastischen) Vorstellungen einer technologischen Transformation oder
Verabschiedung des Körpers sind seit einigen Jahren Thema verschiedener
künstlerischer Ansätze (Orlan, Stelarc), aber auch gehäuft in den
Massenmedien aufzufinden. Sogar das passende Schlagwort „posthuman
cinema“ ist schon geprägt
worden. [7] In vielen derartigen
Darstellungen werden die „posthumanen“ Verschiebungen durch das
sogenannte „Morphing“, das eine fließende Transformation einer
Körperform in eine andere ermöglicht, visualisiert.
*
Aus welchen Konstellationen ist das Morphing als Softwaretechnik
hervorgegangen? Wolf [8] zeichnet eine
Linie nach, die bis zu den Versuchen Dürers zurückreicht, die
Proportionen des menschlichen Schädels zu erfassen. Dürer stellte die
proportionalen Verhältnisse in Form von Linien dar, deren Bewegung, Drehung
etc. eine entsprechende Deformation des dargestellten Profils erlaubte. Auch
nennt Wolf Descartes analytische Geometrie und deren Formalisierung des Raums in
Form des kartesischen Koordinatensystems, wodurch jeder Punkt im Raum exakt
mathematisch beschreibbar wird. Diese beiden Stränge berühren sich, so
Wolf, in D‘arcy Wentworth Thompsons bedeutendem Werk über biologische
Morphologie, On Growth and Form, welches erstmals 1917 erschien. Darin
beschreibt Thompson die Anwendung des kartesischen Koordinatensystems auf
organische Formen: „Wenn wir in ein System kartesischer Koordinaten den
noch so komplizierten Umriß eines Organismus oder einen Teil davon
eintragen, wie einen Fisch, einen Krebs oder einen Säugetierschädel,
können wir jetzt diese komplizierte Figur in allgemeinen Ausdrücken
als eine Funktion von x, y behandeln. Wenn wir unser rechtwinkliges System einer
Deformation nach einfachen und anerkannten Regeln unterwerfen, wobei wir z.B.
die Richtung der Achsen, das Verhältnis x/y ändern oder x und y durch
kompliziertere Ausdrücke ersetzen, erhalten wir ein neues
Koordinatensystem; seine Abweichung vom ursprünglichen Typus wird von der
eingetragenen Figur genau befolgt. Anders ausgedrückt erhalten wir eine
neue Figur, welche die alte Figur unter einer mehr oder weniger homogen
wirkenden ‚Beanspruchung‘ darstellt und genauso eine Funktion der
neuen Koordinaten ist, wie die alte Figur eine Funktion der ursprünglichen
Koordinaten x und y
war.“ [9]Daraus
schlußfolgert Wolf, daß das Morphing seinen konzeptuellen Ursprung
schon lange vor der digitalen Bildverarbeitung hat. Solche rückwärts
konstruierten Kontinuitäten sind jedoch problematisch: Schließlich
könnte man die Idee des Morphings ebenso bis zu Ovids Metamorphosen
zurückverlegen: „Von den Gestalten zu künden, die einst sich
verwandelt in neue Körper, so treibt mich der Geist“, lautet deren
erster Satz. [10]Allerdings ist
richtig, daß D`Arcy Thompson ein Vorläufer des Morphings ist, sofern
er die mathematische Methode, „um die Form einer Kurve (ebenso wie
die Lage eines Punktes) in Zahlen“ auszudrücken, in den
Mittelpunkt rückt. So kann man nämlich auch „den Umriß z.
B. eines Fisches ein[....]zeichnen und ihn dann in eine Zahlentabelle [...]
übertragen“, eine Zahlentabelle, aus der gerade auch ein Computer
(was Thompson noch nicht ahnen konnte) „nach Belieben wieder eine Kurve
rekonstruieren“ [11]
könnte. Statt aber diese mathematische Formalisierung der visuellen Formen
und mithin der Körperbilder weiterzuverfolgen, wechselt Wolf dann relativ
unvermittelt zur Geschichte der Special-Effects im Kino. Als Paradebeispiel der
morphing-ähnlichen, vordigitalen Effektgeschichte gilt immer wieder eine
Sequenz aus The Wolf Man (R: George Waggner, USA 1941), in der sich der
Protagonist fließend von einem Mensch in einen Werwolf verwandelt. Dieser
Effekt war ein aufwendiger Stoptrick, bei dem der Schauspieler Frame für
Frame umgeschminkt wurde. Das große Problem an diesem Sprung von
D‘Arcy Thompson zum Kino ist vor allem, daß die kinematographischen
Bilder gerade nicht Bilder sind, die den mathematischen
Transformationsprozessen, die Thompson beschreibt, unterworfen werden
können. Insofern kann man auch die kunstgeschichtlichen (d.h. im
wesentlichen malerischen) Vorläufer solcher Transformationen nur bedingt
als Vorläufer des Morphings benennen (Abb. 1: Grandville
[=Jean-Ignace-Isidore Gérard], Metamorphosis of a Dream,
1844). [12] Die digitalen Bilder
hingegen, bei denen jeder Bildpunkt eineindeutig einer Zeile (x-Koordinate) und
einer Spalte (y-Koordinate) zugeordnet werden kann, sind darin von den
Rasterbildern des Fernsehens verschieden, daß ein Bild ein
„array[...] of values, where a value is a collection of numbers
describing the attributes of a pixel in the
image“ [13] ist. Ein solches
array kann mathematischen Operationen unterworfen werden. Dadurch werden
Thompsons Transformationen machbar. Die Geschichte solcher Transformationen
digitalisierter Bilder beginnt mit dem image-processing der NASA der
sechziger Jahre und diese Vorgeschichte erwähnt Wolf leider nicht. In
Vorbereitung des Apollo-Programms, also der bemannten Mondlandung, wurde das
Ranger-Programm gestartet. Aufgabe der Ranger-Sonden war, Videobilder von der
Mondoberfläche an die Erde zu schicken. Die ersten Ranger-Missionen
schlugen jedoch fehl, erst Ranger 7, gestartet am 28. Juli 1964, sendete mit
einer neuartigen
Vidicon-Röhre [14] Videosignale
zur Erde. Dort wurden die Bilder am – auf Betreiben von Dr. Robert Nathan
gegründeten – Information Processing Laboratory (IPL)
des Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA digitalisiert und
nachbearbeitet. Dazu kam die später sogenannte VICAR ( Video Image
Communication and Retrieval)-Software auf einem IBM 7094 oder IBM 360 zum
Einsatz. [15]
Eines der Probleme der auf der Erde empfangenen Bilder war, daß sie
geometrisch verzerrt waren. Um dieses Problem zu lösen, wurden die Bilder
passend entzerrt. Das dazu verwendete Verfahren ist das Image- Warping,
definiert als „geometric transformation of digital images [...] that
redefines the spatial relationship between points in an
image“. [16]Bald kam
man am IPL auf die Idee, die Bildbearbeitungsverfahren auch auf die Verbesserung
medizinischer Bilder, zunächst Röntgenaufnahmen, anzuwenden. Schon
1967 stellten Nathan und Robert Selzer ihre Ergebnisse dem National Institute
of Health vor, wo man so begeistert war, daß die Forschung am IPL
finanziell unterstützt
wurde. [17] Insbesondere die
Korrektur der geometrischen Verzerrungen durch das Image Warping wurde
bald intensiv in der medizinischen Bildverarbeitung, insbesondere in der
erstmals 1981 klinisch evaluierten Digitalen Subtraktions-Angiographie,
eingesetzt, um präzise Diagnosen erstellen zu
können. In diesem Verfahren wird zunächst
ein Röntgenbild des Patienten erstellt, dann wird ihm ein Kontrastmittel in
die Blutbahn injiziert und ein zweites Röntgenbild erstellt. Subtrahiert
man nun digital von dem zweiten das erste Bild, bleiben nur mehr die
kontrastreichen Blutbahnen, befreit von „Störungen“ wie Knochen
und Organen, übrig. Das Problem dieses Verfahrens ist offenkundig,
daß sich der Patient zwischen den beiden Aufnahmen nicht bewegen darf, da
sonst die Subtraktion nicht fehlerfrei gelingen kann. Um die, schon durch das
Atmen, das lebendige pneuma, nicht vermeidbare Bewegung des lebenden
Körpers zu korrigieren, werden die Bilder mit Hilfe von Image-Warping
aneinander angepaßt. Das Leben des Patienten wird buchstäblich aus
den Bildern herausgerechnet: Mit Foucault könnte man sagen, daß das
Warping in der medizinischen Bildverarbeitung eine der Techniken ist, durch die
der „kalkulierende[...] Blick“ der modernen Medizin durch die
„Einfügung des Todes“ die Medizin als „Wissenschaft vom
Individuum“ [18] konstituiert.
Auf diese Wurzel des Morphings in der Medizin wird zurückzukommen sein.
Das Warping ist jedoch nur ein Bestandteil des Morphings, durch den das
Ausgangs- und das Zielbild in schrittweise übereinstimmende Gestalt
verzerrt werden. Dadurch kann der zweite Schritt, das Cross-dissolving,
welches im Wesentlichen darin besteht, daß die Farben der Pixel des
Ausgangsbildes schrittweise in die des Zielbildes geändert werden,
zwischen den beiden Bildern fließend ausgeführt werden.
Außerdem dient die funktionelle Einbindung des Warpings im
Image-Processing der NASA und der Medizin der Entzerrung und nicht der
Verzerrung der Bilder, wie in vielen heutigen kommerziellen Anwendungen
des Morphings. [19]Als Startpunkt
des Morphings im eigentlichen Sinne gilt eine Präsentation von Tom
Brigham auf der SIGGRAPH-Konferenz
1982. [20] Er führte eine
Demonstration vor, die die Transformation einer Frau in einen Luchs zeigte. 1988
kommt mit Willow (USA, R: Ron Howard) der erste Film ins Kino, der eine
längere
„fotorealistische“ [21]
Morphing-Sequenz enthält. Bemerkenswerterweise zeigt diese Sequenz schon
wieder die Verwandlung von Tieren in einen weiblichen Körper. Wenn man
einmal von den ideologischen Implikationen solcher Frauen und Tiere eng
assoziierender Sequenzen absieht, bleibt auffällig, daß das Morphing
von Anbeginn an mit Körperbildern in Verbindung gebracht wird. Wirklich
populär wird das Morphing mit dem 1991 in den Kinos laufenden Terminator
2 (USA, R: James Cameron) – ein Film, in dem es genutzt wird, um den
futuristischen Roboter T-1000 darzustellen – einer gnadenlosen und (fast)
unbegrenzt effizienten Kampfmaschine – die sich ebenfalls in
verschiedenste Körper
verwandelt. [22]
*
Die Fernsehserie Star Trek als ein Beispiel zu wählen, hat
den Vorteil, daß die verschiedenen unter diesem Namen firmierenden
Fernsehserien populär sind. 1992 haben sich 53% aller Amerikaner dazu
bekannt, Fans von Star Trek zu sein, d.h. unabhängig davon, was
„Fan“ genau bedeutet, ist das durch diese Fernsehserien produzierte
Wissen zumindest weit verteilt. Außerdem sagt populäre Science
Fiction, insofern sie aus notwendig heutiger Sicht ein Bild einer Zukunft
entwirft – nach William Gibsons Wort – mehr über das
Selbstverständnis der Gegenwart als über eine mögliche Zukunft
aus.
Ab 1993 läuft Star Trek – Deep Space Nine im
amerikanischen, ab 1994 auch im deutschen Fernsehen. Dieser zweite Spin-Off der
1966-68 entstandenen legendären ersten Star Trek-Serie wurde bald
sehr populär. Einer der Charaktere der Crew der Raumstation Deep Space
Nine, auf der die Serie vorwiegend spielt, ist der „Formwandler“
Odo. Er ist zunächst das einzig bekannte Exemplar einer unbekannten
Spezies, die jede Gestalt annehmen kann: Die Verwandlungssequenzen sind mit
Morphing gestaltet worden (Abb. 2-6 zeigen Odo sich aus einer Tasche in seinen
„Standardzustand“ verwandelnd). Im Verlauf der Serie stellt sich
heraus, daß Odo zu einer Spezies gehört, die einen weit entfernten
Teil der Galaxis beherrscht – den „Gründern des
Dominions“. Diese üben ihre Gewaltherrschaft vorwiegend durch Armeen
geklonter Krieger, den sogenannten „Jem‘Hadar“, und deren
ebenso geklonten Leitern, den „Vorta“, aus. Wie dieser Einfall der
Drehbuchautoren schon zeigt, verfügen die „Gründer“
über eine hochentwickelte Biotechnologie, mit der auch synthetische Drogen
(„Ketracel White“) herstellbar sind. Die „Gründer“
sind innerdiegetisch eine fremdartige und evolutionär hochentwickelte
biologische Spezies und zugleich eine populäre Repräsentation der
Gentechnik. Odos Körper ist, obwohl er doch jede Form annehmen
könnte, sehr menschlichen und traditionellen Geschlechterrollen zugeordnet.
Dadurch, daß er weitgehend durch den Schauspieler René Auberjonois
verkörpert wird, ist Odo als männlich ausgewiesen: Im Laufe der Serie
entwickelt er eine heterosexuelle Beziehung zu Major Kira Nerys (Nana Visitor).
Das Unbehagen über die polymorph-perversen Potentiale solch
wandlungsfähiger Körper scheint gebändigt werden zu müssen.
Obwohl Odo ein positiv besetzter Charakter ist, sind die flüssigen
Körper der Formwandler generell negativ konnotiert. Die „Gründer
des Dominions“ wollen gewaltsam ihre Ordnung auf die gesamte Galaxis
ausdehnen. Außerdem unterwandern sie – da sie ja jede Gestalt
annehmen können – im Verlauf der Serie immer wieder die
Föderation der vereinigten Planeten, also jene fiktive politische
Organisation, der die Raumstation DS9 angehört.
*
Um die Implikationen solcher Darstellungen genauer beschreiben zu
können, sind Foucaults Analysen der Bio-Macht hilfreich. Diese ab
dem 18. Jahrhundert langsam auftauchende Machtform setzt beim einzelnen
Körper „auf Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner
Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner
Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische
Kontrollsysteme“ [23]:
„Eine solche Macht muß [...] qualifizieren, messen, abschätzen,
abstufen.“ [24] Mithilfe von
Statistiken und Durchschnittswerten werden seit dem 19. Jahrhundert
Normalitätszonen bestimmt, an denen sich Subjekte ausrichten müssen.
Die Statistiken und Durchschnittswerte wurden durch eine immer stärkere
wissenschaftliche und d.h. quantitative und vermessende Erfassung
körperlicher Fähigkeiten und Phänomene
möglich. [25] Diese Machtform
ist produktiv, erzeugt Wissen über die Körper und erlaubt so eine
vorausplanende Lenkung und Optimierung. Eine besonders drastische Form ist
die ab dem spätem 19. Jahrhundert durch Frederick W. Taylor und dann Frank
B. Gilbreth entwickelte Arbeitswissenschaft und ihr scientific
management. Gilbreth setzte chronofotografisch und kinematografisch
gewonnene Bilder zur Analyse von Bewegungsabläufen von Arbeitern ein. Die
optimierten Arbeitsabläufe wurden wiederum kinematografisch aufgezeichnet
und konnten so als Vorbild für alle neuen Arbeitenden
fungieren. [26] Wie sich an diesem
letzten Beispiel deutlich zeigt, sind die Disziplinierungsprozeduren, um die
„Nutzbarkeit und Gelehrigkeit“ der Körper zu steigern, zentrale
Bedingungen der Entstehung der kapitalistischen
Wirtschaftsordnungen. [27]
Die moderne Medizin hebt nach Foucaults historischen Untersuchungen an
der Wende zum 19. Jahrhundert mit der klinischen Anatomie an. Das Wissen, das
nun durch die (zuvor lange tabuisierte) Öffnung des Leichnams erzeugt wird,
dient der Erkenntnis und Heilung der
Krankheiten. [28] Die medizinischen
Bildgebungsverfahren, die die Körper immer tiefgreifender durchleuchten
schaffen neue Möglichkeiten zur Therapie, Pflege und Heilung. Auf diese
Weise sorgen sie für höhere Produktivität und sind mithin eine
Form der Bio-Macht. Die computergestützten Bildgebungsverfahren steigern
die im ärztlichen Blick implizierte „Geometrie von Linien,
Flächen und Massen“ [29]
und übertrumpfen damit den menschlichen Blick in den Körper. Dies
gelingt aber nur, weil das digitalisierte Bild des Körpers eben einem
„Netz von [...]
Markierungspunkten“ [30]
unterworfen werden kann, also einer Formalisierung, die der von D‘arcy
Wentworth Thompson formulierten und der im Morphing verwendeten ähnelt.
Ohne die Verarbeitung durch Computer könnte man – anders als bei
einfachem Einsatz von Röntgenstrahlen – weder in der
Computertomographie, noch beim Magnet-Resonanz-Imaging Bilder erhalten. In der
schon genannten Digitalen Substraktions-Angiographie dient das Warping dazu,
überhaupt erst lesbare Bilder zu erzeugen. Die mit dem Morphing erzeugten
Bilder flüssiger und beliebig transformierbarer Körper treten zu einer
Zeit auf, in der die Formalisierung der Körperbilder schließlich in
medizinisch genutzten Simulationsmodellen von Körpern und Körperteilen
mündet. Die Computersimulationen des Körpers, die sich jenseits der
Dichotomie von Leben und Tod befinden, werden dabei zunehmend zu normativen
Modellen realer
Körper. [31]
Das Phantasma, was sich im Lichte von Foucaults Analysen der
Bio-Macht an die Gentechnologie anlagert, ist, nicht nur das Fleisch zu
durchleuchten, vermessen und zu disziplinieren und durch die Beseitigung heute
unheilbarer Krankheiten weiter zu optimieren, sondern das dem menschlichen
Leben, dem menschlichen Körper zugrundeliegende Programm zu
kontrollieren. [32] Die
arbeitswissenschaftliche, medizinische, aber auch psychologische etc.
Optimierung des Körpers würde unüberbietbar übertroffen,
wenn man nicht erst auf der Ebene des fleischlichen Phänotyps, sondern
schon auf der Ebene des strukturalen Genotyps intervenieren könnte. Eine
solche strukturale Eugenik würde den erbitterten Widerstand der Kirchen,
vieler Bürgerbewegungen und diverser Ethik-Komissionen auf sich ziehen.
*
Aber wird das etwas nutzen? Die Betonung der Reinheit, Unantastbarkeit
und – wenn man so will – morphologischen Konstanz des Körpers
könnte in Widerspruch zu der – weniger
häufig kritisierten – kapitalistischen Struktur der meisten heutigen
Gesellschaftsformen stehen. Marx und Engels bemerkten schon 1848 zum
Kapitalismus: „Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit
ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden
aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie
verknöchern
können.“ [33] Der
Kapitalismus benötigt permanente Veränderung, immer neue Moden und
Märkte, die Freisetzung von Produktivkräften: Das Wort
„flüssig“ steht nicht zufällig außer für einen
bestimmten Aggregatzustand der Materie auch für die Zahlungsfähigkeit.
Auch werden oft Metaphern wie „Kapitalströme“ oder
„Warenzirkulation“ verwendet. Heute ist
„Flexibilität“ das große Zauberwort des postfordistischen
Akkumulationsmodells. [34] Die
flexiblen Unternehmen werden im
Marktkrieg [35] siegen, so wie die
Gründer mit ihren flexiblen Körpern und ihren in industrieller Serie
geklonten Kriegern die Macht über das Dominion
ausüben. [36] Daß u.a. der
evolutionsbiologische Begriff der „Fitness“ (Anpassung) für die
Disziplinarpraktiken (Fitness-Studios) verwendet wird, die den eigenen
Körper ausdauernd und leistungsfähig machen, ist bezeichnend:
Ständige Selbstanpassung auch des eigenen Körpers und seiner
Bedürfnisse an sich ständig verändernde Anforderungen eines zum
natürlichen Gesetz erhobenen Marktes und dessen gottgleicher
„unsichtbarer Hand“ ist die Devise. Insofern die
Distribution von Körperbildern Körperpraktiken mitreguliert, sind die
Bilder der flexiblen Körper Teil der Strategie der
Flexibilisierung. [37] Aziz und
Cucher schreiben: „Die Idealisierung des Körpers, die seit der
griechischen Klassik im Zentrum des Kunstmachens stand, hat angestachelt von
den Bedürfnissen des Marktes, eine ästhetische und technische
Schwelle überschritten, die in der Darstellung menschlicher Vollkommenheit
gipfelt: einer Vollkommenheit, mit der selbst die Götter nicht mehr
mithalten können.“ [38]
Die höchste Vollkommenheit ist heute die unbegrenzte
Verwandlungsfähigkeit: Sie findet sich in den phantasmatischen Figuren der
Top-Models: Deren „Fähigkeit zur Metamorphose“ und die
Fähigkeit „Körper und Physiognomie total zu
beherrschen“ [39] gilt als die
Vollendung der Schönheit – ein besonders bekanntes Beispiel
dafür ist die chamäleonhafte Linda Evangelista (Abb. 7 [Fotografie:
Jürgen Teller] und Abb. 8). An den Top-Models zeigt sich deutlich,
daß das flexible Körperideal ein Befehl zur Selbstdisziplin ist.
Der wandlungsfähige Körper findet sich ebenso in Musikvideos: 1991
erscheint Black or White von Michael Jackson, dem „Prothesenkind,
[dem] Embryo aller erträumten Mutationsformen, die uns von der Rasse und
dem Geschlecht
erlösen.“ [40] In dem
Video verwandeln sich u.a. Menschen beiderlei Geschlechts und verschiedener
Herkünfte fließend ineinander. Alle tatsächlichen Ungleichheiten
zwischen Rassen (z.B. im Verhältnis der „ersten“ zur
„dritten“ Welt) und Geschlechtern werden in den flüssigen
Morphings geleugnet und machen einer Family of Man
Platz. [41] Ungleichheiten und
Differenzen erscheinen nur als mühelos überwindbare, temporäre
Fixierungen einer fließenden universellen Äquivalenz, die dem
Äquivalenzcharakter des Geldes gleicht. Abb. 9 zeigt eine Werbung des
Druckerherstellers OKI, in der 1996 selbstverständlich auf den flexiblen
Körper rekurriert, dabei bezeichnenderweise eine schwarze Frau zeigt, die
in eine nicht-schwarze metallische Masse übergeht und diesen Prozeß
mit „grenzenlose[r] Anpassungsfähigkeit“
assoziiert. [42] Das Bild ist eine
Chiffre für die ökonomischen und biopolitischen Zwänge, den
Körper und das Selbst „flexibel“ zu machen. Die
ständige Selbstveränderung ist auch auf anderer Ebene gängige
Praxis: In den von Turkle diskutierten Internet-Rollenspielen (sogenannte Multi
User Dungeons/Domains) nehmen die Spieler verschiedene Personae bzw.
Körperbilder an und können so spielerisch erfahren, wie es ist eine
oder ein andere/r zu sein: Turkle weist selbst daraufhin, daß solche
Praktiken als Training für Flexibilität dienen
können. [43] Das manchmal als
„subversiv“ oder „emanzipativ“ gepriesene
„multiple Subjekt“ der Netznutzer oder der Leute in der sogenannten
„Postmoderne“ ist so betrachtet alles andere als subversiv, sondern
einfach nur eine hegemoniale Form von „flexibler“
Subjektivität. Eine andere Weise, in der sich diese hegemoniale
Subjektivität zeigt, ist der zunehmende Zerfall sozialer Beziehungen: Wenn
der oder die Partner/in plötzlich als Hindernis der eigenen Mobilität
erscheint, wird die Beziehung eben weggeworfen wie jeder andere Konsumabfall.
Michel Houellebecqs Romane Ausweitung der Kampfzone und
Elementarteilchen haben ja nur deswegen solchen Wirbel ausgelöst,
weil sie diesen Punkt treffen: „Wie der Wirtschaftsliberalismus –
und aus analogen Gründen – erzeugt der sexuelle Liberalismus
Phänomene absoluter Pauperisierung. [...] Manche treiben es mit hundert
Frauen, andere mit keiner. Das nennt man das ‚Marktgesetz‘. [...]
Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt er
gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der
sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle
Altersstufen und
Gesellschaftsklassen.“ [44]Dasselbe
gilt für Kinder: Die konservativen Klagen über die zunehmende
Unwilligkeit der Bürger, Kinder zu produzieren laufen ins Leere, da die
konservativen Kräfte aus ideologischer Verblendung nicht sehen können,
daß es der neoliberale Flexibilisierungsdruck ist (und nicht irgendein aus
sich selbst heraus stattfindender „Werteverfall“), der den Nachwuchs
zunehmend als Störung der für die Karriere notwendigen
Flexibilität erscheinen läßt.
*
Aziz und Cucher schreiben auch: „Das menschliche Genomprojekt
wird derzeit als größter wissenschaftlicher Fortschritt der
Menschheit propagiert [...] Wenn aus der Biologie ausschließlich eine
Funktion des genetischen Codes gemacht wird, dann wird sie lediglich zu einem
weiteren Bereich der Kommunikationsforschung. [...] Einige grenzenlos
enthusiastische Menschen glauben, daß diese Technologien
unbeschränkte Möglichkeiten hinsichtlich der Rekonfiguration des
Selbst bieten.“ [45] In ihrer
künstlerischen Arbeit wollen sie dieser Euphorie ein
„Gefä[ß] für das
Mitleiden“ [46]
entgegenstellen. In ihrer Serie The Dystopia (1994) sieht man Portraits,
bei denen mit relativ einfachen Kunstgriffen digitalen Image Processings
alle Körperöffnungen mit Haut überzogen wurden (Abb.
10-12 zeigen Chris, Ken, Maria). Die Verschiebung der
Körperform wird hier als negative Utopie gezeichnet. Niemand kann mehr
sprechen, riechen, hören, schmecken, atmen oder etwas sehen, niemand kann
sich orientieren und kommunizieren. Naheliegend ist der Schluß, daß
die Künstler hier das „Verschwinden des mentalen Raums“ und
„extreme[...] menschliche[...]
Isolation“ [47] thematisieren,
d.h. die zukünftige Unmöglichkeit von Kommunikation und die
Unmöglichkeit, sich noch „mit den eigenen Augen“ ein Urteil
bilden zu können. Aber wieso können die Bilder über diesen eher
simplen Kulturpessimismus hinaus eine „Zuflucht für
Menschlichkeit“ [48] bieten?
Aziz und Cucher rekurrieren in The Dystopia auf die Form des
fotografischen Portraits. Dieses wurde nach der offiziellen Vorstellung der
Fotografie 1839 bald eine der wichtigsten Verwendungsweisen des neuen Mediums,
die zu einer tendenziellen Demokratisierung der Selbstdarstellung führte.
Seit der Entwicklung des Rollfilms und der ersten Kodak-Kamera 1889 spielte das
Portrait in der Familienfotografie eine zunehmend wichtigere Rolle für den
Familienverband: Der Mobilisierung der Arbeitskräfte im sich entwickelnden
Kapitalismus entsprach ein Medium, das Höhepunkte des Familienlebens
fixieren, reproduzierbar und transportabel machen konnte. Durch die
Familienfotos auf Schreibtischen wurde und wird die zunehmende Trennung
(zumeist) von Vätern und dem Rest der Familie medial kompensiert und
mithilfe des Familienalbums wurde und wird die Geschichte und Kohärenz der
Familie immer wieder neu inszeniert. Außerdem wurde das fotografische
Portrait schon bald ein zentrales Mittel der kriminalistischen Verfolgung,
Erfassung und Klassifizierung von
Subjekten. [49] Das fotografische
Portrait ist gerade in dieser Doppelung zwischen der Produktion eines
(idealisierten) normalen Körperbildes und der Produktion eines anormalen
Anderen ein unverzichtbares Mittel der Konstruktion des bürgerlichen
„Individuums“. [50] Die
Bilder von Aziz und Cucher zitieren in den verschiedenen Posen und Haartrachten
der fotografierten Subjekte und darin, daß die Portraits mit Namen
gekennzeichnet sind, die Tradition des Portraits des individuellen
Normal-Bürgers [51] und zeigen
auch geschlechtliche, „rassische“ und Altersdifferenzen. Jedoch sind
alle Sinnesorgane getilgt. Die „Zuflucht für
Menschlichkeit“ besteht paradoxerweise gerade darin, daß die
Portraits „Personen“ („Chris“, „Ken“,
„Maria“) zeigen, deren Schnittstellen zum Außen (Augen, Mund,
Nase, Ohren) von der Haut verschlossen sind. In gewisser Weise behaupten diese
Bilder also eine Unabhängigkeit des Individuums von der Außenwelt
(die Portraitierten sind auch unbekleidet), die doch erst das Subjekt
strukturiert und hervorbringt und gerade in Hinsicht auf Geschlecht, Alter oder
Hautfarbe immer wieder repressive Hierachien errichtet hat (auch bei Aziz und
Cucher findet sich so betrachtet wieder eine Family of Man). Man
sieht auf diesen Bildern die Funktion des „Haut-Ich“, Zusammenhalt
der Psyche und Individuation zu
gewährleisten. [52] Die Haut ist
aber nicht nur eine Grenzfläche des
„Individuums“ [53],
sondern auch Schnittstelle zum Außen – nämlich als Organ des
Tastsinnes, das in The Dystopia alle anderen Sinnesorgane verdrängt
hat: „Von allen Organen mit sensorischer Funktion besitzt der Tastsinn ein
Unterscheidungsmerkmal, welches ihn nicht nur am Ursprung der Psyche ansiedelt,
sondern das es außerdem ermöglicht, daß der Psyche dauerhaft
etwas zur Verfügung gestellt wird [...]; dabei handelt es sich um den
Hintergrund, auf dem sich psychische Inhalte als Figur abbilden, oder auch um
die umfassende Hülle, die dafür sorgt, daß der psychische
Apparat Inhalte aufnehmen
kann.“ [54] In ihrer
neueren Serie Interiors (Abb. 13, 14 zeigen Interior Study #5,
2000; einmal ganz, einmal im Detail) wird die Haut als Thema wieder
aufgegriffen. Aziz und Cucher betonen den engen Zusammenhang zwischen der Serie
und The Dystopia: „In dem Sinne, daß der Betrachter [in
Interiors, J.S.] mit einem Hautinnenraum [...] konfrontiert wird. [...]
Die Dystopia Serie waren Portraits des Äußeren von Subjekten, die
sich ‚nach innen‘ gekehrt
haben.“ [55] Das
Interior ist also nicht nur ein leerer Innenraum, sondern eine umfassende
und zugleich architektonisch stabile und feste Hülle aus Haut: So gesehen
ist es Bild für das vom Haut-Ich zusammengehaltene Subjekt, für dessen
„Innenleben“. In den Interiors verschwindet „die
Umgebung vollkommen ins Bewußtsein des
Subjekts.“ [56] Das Licht,
das in Interior Study #5 durch im Außerbildraum befindliche
„Fenster“ in die Szene fällt, erinnert in diesem Zusammenhang
an eine Beschreibung des Erkenntnisprozesses bei Locke in dessen Essay
concerning human understanding von 1690. Für Locke sind
„äußere und innere Sensationen die einzigen für mich
erkennbaren Wege, auf denen Erkenntnisse in den Verstand gelangen. Sie allein
sind [...] die Fenster, durch die das Licht in diesen dunklen Raum
eingelassen wird. Denn meines Erachtens ist der Verstand einem Kabinett gar
nicht so unähnlich
[...].“ [57]
Diese Anspielung auf ein im 17. Jahrhundert entwickeltes Modell von
Subjektivität, in dem das Innen und das Außen sorgfältig
separiert sind, zeigt erneut, daß Anthony Aziz und Sammy Cucher den
„unbeschränkte[n] Möglichkeiten hinsichtlich der Rekonfiguration
des Selbst“ [58] ein
(vielleicht alt-humanistisches) Ideal eines autonomen und stabilen Subjekts
entgegensetzen. Die nach innen gekehrten Subjekte in The Dystopia
können als Geste der Verweigerung gegen die permanente Anpassung an die
Anforderungen des Außen gelesen werden. Die Künstler zeigen –
trotz Image Processing – keinen „zerfließenden
Körper“ [59], der, wie
Anzieu an den Gemälden Francis Bacons (Abb. 15: [Bild 1] aus: Triptych
Inspired by T.S. Eliot’s Poem ‚Sweeney Agonists‘, 1967)
aufzuweisen sucht [60], gerade
Zeichen für eine gefährdete Stabilität des Subjekts ist.
*
Zeichnet sich am Horizont, mit solchen und trotz solcher
Gegenentwürfe, die Auflösung der nächsten
„altehrwürdigen Vorstellung“ (Marx/Engels): Der
Menschen-Form ab? Die Frage ist hier nicht, ob die Gentechnik den
formwandelnden Körper jemals wirklich hervorbringen wird – aus
heutiger Sicht ist das sehr unwahrscheinlich. Es scheint vielmehr, daß die
Phantasmen über die angeblichen Möglichkeiten der Gentechnologie (und
der Computertechnologie) gegenwärtig mit den angedeuteten hegemonialen
Diskursen des Neoliberalismus eine Verbindung eingehen. Diese Artikulation hat
die Funktion, die Flexibilisierung zu naturalisieren und als den logischen Weg
in die Zukunft darzustellen – einer Zukunft, in der der technische
Fortschritt auch noch die letzten Hindernisse einer physischen und psychischen
Totalmobilmachung für die entfesselten Märkte beseitigt haben
wird. [61] In der von Deep Space
Nine ausgemalten Zukunft überschreiten die „Gründer“,
wenn es ihren imperialistischen Zielen dienlich ist, mühelos jede Grenze
von Geschlecht und Hautfarbe, aber das sind für diese (nicht nur kollektiv
lebenden, sondern als Einzelwesen namenlosen) Übermenschen nur Atavismen
aus einer Vergangenheit, in der der Körper noch nicht struktural
optimiertes Material und seine Konstanz eine Bedingung der sogenannten
„Individualität“ war. Zu beantworten bleibt aber, wieso
die flexiblen Körper oft so negativ und bedrohlich dargestellt werden, denn
wenn die Flexibilisierung hegemoniale Strategie ist, müßte man doch
erwarten, daß die flexiblen Gentech-Körper positiv konnotiert
wären: Nicht nur die „Formwandler“ aus DS9 sind negativ
gezeichnet, sondern auch der flüssige Roboter „T-1000“ aus
Terminator 2. [62] Vielleicht
liegt das einfach daran, daß sich die gegenwärtige Kultur in einer
Übergangszeit befindet, in der sich der hegemoniale Diskurs der gen- und
computertechnisch gestützten Flexibilisierung gerade erst zu formieren
beginnt und in Widerspruch zu dem noch immer dominierenden Modell des
„Individuellen“ oder zu den weiterhin (noch?) notwendigen
hierarchischen Oppositionen wie z.B. weiß / schwarz, Mensch / Tier oder
Mensch / Maschine oder männlich / weiblich steht. Daher erklärt
sich einerseits, warum in DS9 Odos potentiell polymorphe Sexualität
auf ein heterosexuelles Schema reduziert wird: Der extrem negativ konnotierte
flüssige Roboter T-1000 aus Terminator 2 ist demgegenüber
über weite Strecken des Films als polymorph dargestellt, was erstens
an der – im Vergleich zu Schwarzenegger – androgynen
Erscheinungsweise des Schauspielers Robert Patrick liegt. Zweitens gibt es eine
Szene, in der sich der T-1000 (anders als Odo) in eine Frau verwandelt. Drittens
sieht man in dem Film eine bemerkenswerte Sequenz, in der der gefrorene T-1000
in tausend Stücke zerspringt: Als durch ein nahegelegenes Feuer der Ort des
Geschehens zunehmend erwärmt wird, schmelzen die Bruchstücke und die
so entstandenen, quecksilbrigen Tropfen fließen wie voneinander angezogen
zusammen und bilden eine große, silbrige, zuckende Pfütze, aus der
sich schließlich wieder der Körper des T-1000 erhebt. Der sexuelle
Polymorphismus und die flüssige Unzerstörbarkeit lassen den T-1000 als
Bild einer entfesselten, nicht mehr (patriarchal?) kontrollierten, Libido lesbar
werden. Diese könnte man mit Lacan die „Lamelle“ nennen:
„Diese Lamelle ist etwas Extraflaches, das sich fortbewegt, fortschiebt
wie eine Amöbe. [...] Und da es etwas ist [...], was ein geschlechtliches
Wesen in der Geschlechtlichkeit verliert, ist es, nicht anders als die
Amöbe im Vergleich zu den geschlechtlichen Wesen, unsterblich.
Es überlebt jede Spaltung und jeden teilenden Eingriff. Und es
läuft. [...] Diese Lamelle [...] ist die
Libido.“ [63]Andererseits
aber sind solche Fernsehserien und Filme wie DS9 oder Terminator 2
vielleicht auch so populär, weil sie Anschlüsse für Skepsis
gegenüber dem (gentechnologisch oder computertechnologisch) optimierten
flüssig-effizienten-hypertranssexuellen Körper (noch?)
ermöglichen – und das wäre nicht bloß ein
Anachronismus... ABBILDUNGEN:
Abb. 1 Grandville (Jean-Ignace-Isidore Gérard),
Metamorphosis of a Dream, 1844.
Abb. 2 Odo, aus: Star Trek – Deep Space Nine. Abb. 3 Odo,
aus: Star Trek – Deep Space Nine. Abb. 4 Odo, aus: Star Trek
– Deep Space Nine. Abb. 5 Odo, aus: Star Trek – Deep
Space Nine. Abb. 6 Odo, aus: Star Trek – Deep Space
Nine. Abb. 7 Linda Evangelista, fotografiert von Jürgen
Teller.
Abb. 8 Linda
Evangelista. Abb. 9 OKI-Werbung, 1999.
Abb. 10 Anthony Aziz / Sammy Cucher: Chris, aus der Serie The
Dystopia, 1994. Abb. 11 Anthony Aziz / Sammy Cucher: Ken, aus der
Serie The Dystopia, 1994. Abb. 12 Anthony Aziz / Sammy Cucher:
Maria, aus der Serie The Dystopia, 1994.
Abb. 13 Anthony Aziz / Sammy Cucher: Interior Study
#5, aus der Serie Interiors, 1999.
Abb. 14 Anthony Aziz / Sammy Cucher: Interior Study #5, aus der
Serie Interiors, 1999; Detail.
Abb. 15 Francis Bacon: [Bild 1] aus: Triptych Inspired by T.S.
Eliot’s Poem ‚Sweeney Agonists’,
1967.
[1]
Karl Marx. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin (Ost):
Dietz 1953, S. 433. Hervorhebung,
J.S.[2]
Ein anderer Aspekt wäre das Schreckensbild einer zukünftigen
genetischen Klassengesellschaft, wie es in dem amerikanischen Film Gattaca
(1997, R: Andrew Niccol) ausgemalt und in der Praxis britischer
Versicherungsunternehmen bereits real wird. Ein solches Szenario ist
gewissermaßen eine orwellianische Utopie der Gentechnik, im vorliegenden
Aufsatz geht es abr um ein neoliberales Phantasma über die
Möglichkeiten der
Gentechnik.[3]
Vgl. Bruce Sterling. Schismatrix. Hamburg: Argument
2000.[4]
Gilles Deleuze. Foucault. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 175.
[5]
In seiner Diskussion von Foucaults These vom „Verschwinden des
Menschen“ (ebd., S. 175-189) bringt auch Deleuze das Ende der
„Menschen-Form“ mit den „Ketten des genetischen Codes“
und den „Potentialitäten des Siliziums in den Maschinen der dritten
Art“ in Verbindung (insb. S.
187/188).[6]
Vgl. N. Katherine Hayles. How We Became Posthuman. Virtual Bodies in
Cybernetics, Literature and Informatics. Chicago and London: Chicago University
Press 1999. Hayles zeichnet die Herkunft des „posthumanistischen“
Diskurses aus der Kybernetik und dessen Veränderungen nach.
[7]
Vgl. Roger Warren Beebee. After Arnold. Narratives of the Posthuman Cinema. In:
Vivian Sobchack (Hg.). Meta-Morphing. Visual Transformation and the Culture of
the Quick-change. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1999, S.
159-179.[8]
Mark J.P. Wolf. A Brief History of Morphing. In: Sobchak, Meta-Morphing, S.
83-102.[9]
D‘Arcy Wentworth Thompson. Über Wachstum und Form. Suhrkamp:
Frankfurt a.M. 1983, S.
329/330.[10]
Ovid. Metamorphosen. Stuttgart: Reclam 1993, S.
23.[11]
Thompson, Wachstum, S.
330.[12]
Vgl. Barbara Maria Stafford. Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment
Art and Medicine. Cambridge, Mass./London: The MIT Press, S. 437-450.
[13]
James D. Foley/Adries van Dam/Steven K. Feiner/John F. Hughes. Computer
Graphics. Principles and Practice. Reading, Mass. u.a.: Addison Wesley 1990, S.
816.[14]
Vgl. http://nssdc.gsfc.nasa.gov/nmc/tmp/1964-041A-1.html. Vgl. zur
Verfahrensweise von Vidicon-Röhren George Wolberg: Digital Image Warping.
Los Alamitos: IEEE Computer Society Press 1990, S.
33/34.[15]
Vgl. Fred C. Billingsley: Processing Ranger and Mariner Photography. In: Journal
[of the] Society of Photo-Optical Instrumentation Engineers, Vol. 4, No. 4,
April/May 1966, S. 147-155. Billingsley, S. 147, spricht vom IBM 7094,
während Ken Sheldon: Probing Space by Camera. The Development of Image
Processing at NASA`s Jet Propulsion Laboratory. In: Byte. März 1987, S.
143-148, hier S. 145, behauptet, man hätte am IPL einen IBM 360/44
eingesetzt.
[16]
Wolberg, Digital Image Warping, S. 1.
[17]
Sheldon, Probing Space,
S.145-147.[18]
Michel Foucault. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des
ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 103 und
207.
[19]
Vgl. Wolberg 1990, S. 3. Es zeigt sich an allen Beispielen aus Militär,
Raumfahrt und Medizin, daß dort das Image Processing, die
Manipulation gerade Bedingung des referentiellen Bezugs der Bilder war
und ist. Dies steht offensichtlich vielen zeitgenössischen Klagen über
den Referentialitätsverlust durch die leichte Manipulierbarkeit
digitalisierter Bilder entgegen.
[20]
In einer E-Mail vom 15.02.2000 präzisierte Mr. Brigham: „The 1982
SIGGRAPH reference was a video shown in the Electronic Theatre (the Siggraph
film show). I showed morphing examples there in 1982, 83, 84, 85, 86, 87, 88. I
also gave a course called Advanced Image Processing in 1984 which included
morphing. Likewise courses in 85 and 86 titled Special Effects.“ Scott
Anderson. Morphing Magic. Indianapolis: Sams 1993, S. 81, behauptet, daß
die Algorithmen, die Brigham für seine ersten Morphing-Sequenzen benutzte,
jene der NASA und der medizinischen Visualisierung waren.
[21]
Auf die Herkunft dieser „fotografischen“ Zielsetzung in der
Computergrafik kann ich hier nicht detailliert eingehen, vgl. dazu Martin E.
Newell / James F. Blinn: The Progression of Realism in Computer Generated
Images. In: Association for Computing Machinery (Hg.) Proceedings of the Annual
Conference 1977. New York 1977, S. 444-448. Wie Wolberg, Digital Image Warping,
S. 222/223, bemerkt, liegt darin, daß „any technique to accurately
render fur, feathers and skin“ extrem viel Rechenresourcen bräuchte,
der Grund, warum die meisten Spezialeffekte von digitalisierten und vordem
fotografischen Bildern von Lebewesen und nicht von computergenerierten Modellen
ausgehen.[22]
Vgl. zum Morphing und zu Terminator 2 auch Jens Schröter. Ein
Körper der Zukunft. Zur Geschichte, Semantik und zu den Implikationen der
Morphingkörper. In: Doris Schumacher-Chilla (Hg.) Das Interesse am
Körper. Strategien und Inszenierungen in Bildung, Kunst und Medien. Essen:
Klartext 2000, S.
250-268.[23]
Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 166.
[24]
Ebd., 172. Vgl. auch Michel Foucault. Überwachen und Strafen. Frankfurt
a.M.: 1994, S. 173-181; insb. 175/176. Die Bio-Macht umfaßt noch die
zweite Komponente der demografischen Kontrolle und Pflege des
„Volkskörpers“. Darauf wird hier nicht
eingegangen.[25]
Vgl. Jürgen Link. Versuch über den Normalismus: wie Normalität
produziert wird. Opladen u.a.: Westdeutscher Verlag 1999, insb. S. 185-312 und
327-333, und Alan Sekula. The Body and the Archive. In: Richard Bolton (Hg.).
The Contest of Meaning. Critical Histories of Photography. Cambridge/Mass. &
London: MIT Press 1993, S.
343-389.[26]
Vgl. Frank Bunker Gilbreth: Bewegungsstudien: Vorschläge zur Steigerung der
Leistungsfähigkeit des Arbeiters. Berlin: Springer 1921.
[27]
Vgl. Foucault, Sexualität, 168.
[28]
Vgl. Foucault,
Klinik.[29]
Foucault, Klinik,
180.[30]
Wie Foucault, ebd. über den ärztlichen Blick
bemerkt.[31]
Die spektakulärste Form, in der computergespeicherte Bilder des
Körpers zur Zeit verfügbar sind, ist das „Visible Human
Project“
(http://www.uke.uni-hamburg.de/institute/imdm/idv/forschung/vhp/). Ein in Texas
zum Tode verurteilter Mann vererbte seinen Körper (also doch noch ein
Leichnam) der Medizin. Dieser wurde geröntgt, einem MRI unterzogen und
schließlich tiefgefroren und in 1878 je ein Millimeter dicke Scheiben
zersägt. Diese wurden je einzeln als digitale Fotos aufgezeichnet. So liegt
jetzt ein Modell eines männlichen Körpers vor (genannt
„Adam“; inzwischen ist auch „Eva“ hinzugekommen), der
aus allen Blickwinkeln betrachtet werden kann: „Steht für die
Datenmanipulation die Rechenleistung von Supercomputern zur Verfügung,
lassen sich auch Körperbewegungen und Verdauungsvorgänge
simulieren“ (FAZ vom 14.12.1994, Nr. 290, S. N3): Ein gespenstisches Leben
des Toten erhebt sich aus dem Rechner. Dieses Modell kann und soll für die
medizinische Ausbildung genutzt werden und würde dann die Ausbildung an
echten Körpern erübrigen.
[32]
Das Konzept des Programms verbindet die Computer- mit der Gentechnologie: Nicht
zufällig wird seit der Artificial Life-Konferenz in Los Alamos, New
Mexico, von 1987 die Künstliche Intelligenz langsam vom
Künstlichen Leben verdrängt, einem Projekt, das „die
logische Form eines Organismus aus seiner biochemischen Wetware zu
abstrahieren“ sucht und so erlauben soll, virtuelle Organismen mit einer
letztlich eigenständigen Evolution zu erzeugen (Vgl. Hans-Joachim Metzger.
Genesis in Silico. Zur digitalen Biosynthese. In: Martin Warnke, Wolfgang Coy,
Georg-Christoph Tholen (Hg.). HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext
digitaler Medien. Basel: Stroemfeld/Nexus 1997, S. 461-510, hier:
464).[33]
Karl Marx / Friedrich Engels. Manifest der kommunistischen Partei. Peking:
Verlag für fremdsprachige Literatur 1970, S. 36/37. Hervorhebung, J.S.
[34]
Vgl. kritisch dazu Anna Pollert. The Orthodoxy of Flexibility. In: dies. (Hg.).
Farewell to Flexibility? Oxford: Blackwell Publishers 1991, S. 3-31, und Joachim
Hirsch. Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im
globalen Kapitalismus. Berlin: ID-Archiv 1995, insb. S.
75-100.[35]
Zur (Liberalisierungs-)Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln,
vgl. auch Michel Foucault. Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte.
Berlin: Merve
1986.[36]
„Dominion“ bedeutet Herrschaft, hat aber noch eine zusätzliche
Konnotation: Die selbstverwalteten Gebiete innerhalb des britischen
Kolonialreiches wurden ebenfalls als „Dominion“ bezeichnet: D.h. die
Herrschaft der „Gründer“ verweist (gewollt oder ungewollt) auf
die kapitalistische Kolonialisierung der heute sogenannten „Dritten
Welt“. Außerdem wird der erste Kontakt zum Dominion bei DS9 in der,
zuerst in den USA am 06.11.93 und in der BRD am 06.09.94 ausgestrahlten, Episode
Rules of Acquisition (aka Here‘s looking at you, dt. Profit oder
Partner, Ep. 25) ausgerechnet durch die als dezidiert profitorientiert
gekennzeichneten „Ferengi“ über Handelsbeziehungen
hergestellt.[37]
Vgl. dazu Margret Jäger / Ernst Schulte-Holtey / Frank Wichert. Biomacht
und Medien. Neue Formen der Regulierung von Bevölkerungen. In: dies. und
Siegfried Jäger / Ina Ruth (Hg.). Biomacht und Medien. Wege in die
Biogesellschaft. Duisburg: DISS 1997, S. 8-29, hier insb. S. 13/14. Vgl. Stuart
Ewen. All Consuming Images. The Politics of Style in Contemporary Culture. New
York: Basic Books 1988, insb. S. 176-191, wo der Autor die Veränderung von
Schönheitsidealen mit sich verändernden Formen kapitalistischer
Hegemonie in Verbindung
bringt.[38]
Anthony Aziz / Sammy Cucher. Nachrichten aus Dystopia. In: Kunstforum, Bd. 132,
1996, 172-175, hier S. 175, Hervorhebung,
J.S.[39]
Immo Wagner-Douglas / Peter Wippermann. The Body is the Message. Das Bild vom
Körper in den Medien. In: Kunstforum, Bd. 141, 1998, S. 185-195, hier S.
193.[40]
Jean Baudrillard. Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme
Phänomene. Berlin: Merve 1991, S.
29.[41]
„Family of Man“ spielt auf die gleichnamige, von Edward Steichen
1955 kuratierte, Fotoausstellung an, vgl. zu den ideologischen Implikationen
dieser Ausstellung Allan Sekula. The Traffic in Photographs. In: Art Journal,
Vol. 41, No. 1, 1981, S. 15-25, hier: S. 19-21. In Darstellungen wie der oben
genannten Morphing-Sequenz aus Willow wird auch die hierarchische
Ungleichheit zwischen Mensch und Tier schlicht
negiert.[42]
Aus: c‘t 6/99, S. 163.
[43]
Vgl. Sherry Turkle: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet. New
York: Touchstone 1995, S. 255/256. Turkle bezieht sich dabei auf Emily Martin.
Flexible Bodies. Tracking Immunity in American Culture – from the Days of
Polio to the Age of AIDS. Boston: Beacon Press
1994.[44]
Michel Houellebecq. Ausweitung der Kampfzone. Berlin: Wagenbach 1999, S.
99.[45]
Aziz / Cucher, Nachrichten, S. 172/173. Mit „Technologien“ meinen
sie außer der Gen- auch die Computertechnologie. In „Die Formen, mit
denen wir leben: Ein Gespräch mit Aziz + Cucher, Von Thyrza Nicholas
Goodeve“. In: Frauen, Kunst, Wissenschaft, Nr. 30, 2000, S. 55-63, hier S.
57 betont Anthony Aziz, daß die „Werke im Kontext des Übergangs
zwischen dem Biologischen und dem Biotechnologischen erstellt
werden.“[46]
Aziz / Cucher, Nachrichten, S. 175.
[47]
Ebd., S.
174/175.[48]
So die Übersetzung des „Gefäßes für Mitleiden“
in: Hubertus v. Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer (Hg.) Fotografie
nach der Fotografie. Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S.
129.[49]
Vgl. Susanne Regener. Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer
Konstruktionen des Kriminellen. München
1999.[50]
Vgl. Sekula, Traffic, S. 16.
[51]
Kriminelle werden seit Bertillon in standardisierter Profil- und Frontalansicht
aufgenommen, vgl. Sekula, Body and Archive, S. 357-364, und Regener,
Fotografische Erfassung, S.
131-167.[52]
Zum Begriff des „Haut-Ich“ und seinen Funktionen vgl. Didier Anzieu.
Das Haut-Ich. Frankfurt a.M. 1991, insb. S.
131-144.[53]
Das auch deswegen „Individuum“ heißt, weil jeder nicht
selbstverursachte Eingriff in die Haut (außer im Bereich der medizinischen
Pflege und der kosmetisch-chirurgischen Optimierung) als zu verurteilende
Verletzung der „Unversehrtheit“ geahndet
wird.[54]
Ebd., S.
113.[55]
Aziz / Cucher, Formen, S.
61.[56]
Ebd.[57]
John Locke. Über den menschlichen Verstand: in vier Büchern. Hamburg:
Meiner 31976, S.
184/185.
Vgl. Jonathan Crary. Techniques of the
Observer. Cambridge, Mass. / London: MIT Press 1990, S. 38-43, wo Crary im
Zusammenhang mit Locke und Descartes von „metaphysics of
interiority“ (39) und dem „interiorized [...] subject“ (40)
spricht. Eine Passage aus Descartes‘ 1641 verfaßten Meditationen
über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg: Meiner 31992, S.
61 erinnert wiederum verblüffend an The Dystopia: „Ich werde
jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und alle meine Sinne
ablenken. [...] [M]it mir allein will ich reden, tiefer in mich hineinblicken
und so versuchen, mir mein Selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu
machen.“[58]
Aziz / Cucher, Nachrichten, S.
173.[59]
Anzieu, Haut-Ich, S.
132.[60]
Vgl. Didier Anzieu. La peau, la mère et le miroir dans le tableaux de
Francis Bacon. In: ders. Le corps de l‘oeuvre. Essais psychanalytiques sur
le travail createur. Paris: Gallimard 1981, S. 333-339, insb. S. 333: „La
Moi-peau n‘enveloppe pas ou plus et l‘intérieur qu‘il
retient insuffisamment menace de s‘écouler“, siehe auch Ernst
van Alphen: Francis Bacon and the Loss of Self. London: Reaktion Books, 1992.
Ich möchte nicht unterschlagen, daß die hier vorgeschlagene Lesart
der Arbeiten von Aziz und Cucher in Widerspruch zu anderen Äußerungen
der Künstler steht. So sehen sie in ihren Interiors auch eine
„‚psychastenische‘ Utopie“, d.h. einen „Traum von
einem regressiven, mutterleibartigen Raum, in dem es keinen Unterschied mehr
zwischen Subjekt und Umwelt gibt“ (Aziz / Cucher, Formen, S. 62;
Hervorhebung, J.S.). Den Begriff der „Psychasthenie“ beziehen sie
dabei von Roger Caillois. Mimicry and Legendary Psychasthenia. In: October, No.
31, 1984, S.
16-32.[61]
Vgl. Tiziana Terranova. Digital Darwin: Nature, Evolution, and Control in the
Rhetoric of Electronic Communication. In: New Formations, No. 29, 1996, S.
69-83.[62]
Am Rande sei bemerkt, daß die erfolgversprechende Anpassungsfähigkeit
leider auch ein altes antisemitisches Klischee ist, das Woody Allen in seinem
Film Zelig (USA 1983) durch die Formwandlung des Protagonisten (aber
natürlich ohne bezug auf Bio- oder Computertechnologien) ironisch
kommentiert. Mit Dank an Holger
Steinmann.[63]
Jacques Lacan. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI.
Weinheim/Berlin: Quadriga 1987, S. 207. Dementgegen sind wieder die Arbeiten von
Aziz / Cucher zu sehen: Dadurch, daß in The Dystopia die
Münder (und mutmaßlich auch alle weiteren) Körperöffnungen
versperrt sind, gibt es keine erogenen Zonen mehr, sind diese doch durch ihre
„Randstruktur“ (Lacan, ebd., S. 176 und 181) definiert – die
Subjekte in The Dystopia sind sexuell gezähmt und auch in diesem
Sinne ist The Dystopia eine „Zuflucht für
Menschlichkeit“ – einer Menschlichkeit, die sich am Bild einer
stabilen „Menschenform“ (Deleuze) orientiert.
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